Thema: Architektur für und mit Menschen in Obdachlosigkeit.
Baukultur sei, so Anna Minta, Professorin am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur der KU Linz in ihrer Begrüßung, immer als soziale Interaktion zu begreifen, die Fragen ethischer und gesellschaftlicher Verantwortung aufwerfe. Bauprojekte im Bereich Obdachlosigkeit machen dies besonders deutlich – und erfordern daher auch ein hohes Maß an Kompetenz und Sensibilität. Mitveranstalter Franz Koppelstätter unterstrich dies, indem er einen bewussten Fokus des afo architekturforum oberösterreich hervorhob: nicht bloß „ikonische Architektur“ in den Blick zu nehmen, sondern vielmehr Prozesse des Bauens stets als Gestaltung gesellschaftlichen Lebens zu reflektieren.
Praxis: "Bauen am sozialen Rand"
Wie können Architekturschaffende dazu beitragen, gesellschaftliche Klüfte auch baulich zu überbrücken? Anhand dreier ausgewählter Projekte, die von ihr seit über 20 Jahren konzipiert, umgesetzt und begleitet werden, zeigte Architektin Ulrike Schartner (gaupenraub+/-, Wien) Bedingungen, Möglichkeiten und Herausforderungen bei der Schaffung inklusiver Wohn-, Arbeits- und Lebensräume für obdachlose und mit obdachlosen Menschen.

Dies beginne, wie beim 2018 eröffneten Wohnprojekt VinziDorf Wien für alkoholkranke obdachlose Männer (Hetzendorf, Gemeindebezirk Meidling, Wien), bei der Schwierigkeit, ein geeignetes Grundstück zu finden und mit Anrainer:innen und Behörden ein Einvernehmen herzustellen. Hier vergingen von Planungsbeginn bis zur Baubewilligung über 10 Jahre. Dann gelte es, die spezifischen Bedürfnisse und Möglichkeiten der Menschen, für die man baue, als Kernelement des architektonischen Konzepts zu verstehen: Für Menschen, die jahre- oder jahrzehntelang obdachlos waren, seien herkömmliche geschlossene Bauweisen völlig ungeeignet, ja das „Wohnen“ selbst stelle sie vor große und ganz eigene Probleme. Dem wurde beim Projekt VinziRast mittendrin (2010–2013) zur Inklusion obdachloser Menschen im Wiener Gemeindebezirk Alsergrund mit kleinen privaten Wohneinheiten Rechnung getragen, die in gestaffelte Zonen von Gemeinschaft und Öffentlichkeit eingebettet sind. Das erlaube Bewohner:innen eine autonome Dosierung der Intensität ihrer sozialen Kontakte und lasse Vergemeinschaftung und Vertrauen neu lernen. „Menschen in Obdachlosigkeit“, daran erinnerte Ulrike Schartner nachdrücklich, „haben keinen Raum des Rückzugs – sie ziehen sich in sich selbst zurück“. Nicht nur deshalb seien überschaubare Gruppengrößen wichtig: „Massenlösungen“ verunmöglichen auch eine gelungene Integration und Inklusion in den umgebenden städtischen Quartieren.
Außerhalb der Stadt situiert ist VinziRast am Land – Boden unter den Füßen (Mayerling/Alland, Niederösterreich), bei dem von 2019 bis 2023 eine Hotelbrache in einen Wohn- und Beschäftigungsort für ehemals obdachlose Menschen umgewandelt wurde. Dieses vom Verein Vinzenzgemeinschaft St. Stephan getragene Projekt wird von den kommunalen Einrichtungen vor Ort befürwortet und findet auch internationale Beachtung: Im deutschen Marburg an der Lahn plant man eine Adaptierung des Konzepts als kommunale Einrichtung.
Ulrike Schartner schilderte diese von Pfarrer Wolfgang Pucher, dem Gründer der VinziWerke angestoßenen Projekte auch als laufenden Lernprozess: Wie sichert man deren Finanzierung durch Spenden und die Unterstützung von Mäzenen langfristig? Welche Maßnahmen erhöhen die Akzeptanz in der Nachbarschaft? Wie Schwellenängste abbauen und Begegnungen auf Augenhöhe ermöglichen? Und schließlich: Wie nutzt man die verfügbaren knappen Ressourcen – unverzichtbar dabei ehrenamtlich geleistete Arbeit und gespendete oder vergünstigte Baumaterialien – so, dass attraktive Lebensräume und qualitativ gestaltete, nachhaltige Bauobjekte entstehen, die in ihrem jeweiligen Umfeld sozial funktionieren und dieses auch architektonisch aufwerten?
Lebensrealität Obdachlosigkeit
Die anschließende Podiumsdiskussion gab Einblicke in die tagtägliche Arbeit mit obdachlosen Menschen. Mit dem Leitsatz, dass es nicht darum gehe, zu fragen, welche Probleme Menschen machen, sondern welche sie haben, plädierte Dietmar Mayr (Sozialverein B37) dafür, obdachlose Menschen in ihren Lebensrealitäten und Bedürfnissen wahrzunehmen – und diese bei allen Angeboten ernst zu nehmen. „Housing first“-Konzepte etwa, die an zu erfüllende verwaltungstechnische Kriterien geknüpft sind, bleiben gerade den obdachlosen Menschen verschlossen, die völlig außerhalb staatlicher und sozialer Systeme stehen: Für öffentliche Einrichtungen sind diese de facto nicht existent und im wahrsten Sinne „anspruchslos“. Das Linzer Projekt Dach überm Kopf (DüK) bilde als Form dezentralen Wohnens mit kleinen mobilen Modulen ein anderes Modell. Besonders die Zusammenarbeit mit kirchlichen Einrichtungen und Pfarren trage hier dazu bei, dass von Menschen wieder „Beheimatung“ erlebt werden könne, die lange Zeit nur die Grunderfahrung des Vertrieben- und Getriebenseins gemacht haben.

Im Zentrum der Arbeit von Obdachlosenseelsorger Julian Kapeller (Diözese Linz) stehen nicht „Mission“, nicht psychologisch-therapeutische „Problembearbeitung“ oder sozialarbeiterische Perspektiven einer „Situationsverbesserung“: Er spricht mit denen, die auf ihn zukommen, hört zu, tauscht sich aus; er verbringt Zeit mit Menschen, nicht mit „den Obdachlosen“; er organisiert gemeinsame Unternehmungen, Feiern und Mahlzeiten – und er begleitet Menschen im Sterben. Nötig sei mehr Achtsamkeit und Miteinander im Alltag, die damit beginnen müsse, in Obdachlosen Menschen zu sehen, nicht eine gesichtslose, diffuse Bedrohung.
In einer Wortmeldung aus dem Publikum schilderte Judith Barisic (Volkshilfe Linz) den gelungenen partizipativen Gesprächsprozess für den öffentlichen Raum am Linzer OK-Platz, bei dem alle beteiligten Gruppen – Anrainer:innen, Geschäftsleute und Obdachlose, die den Raum nutzen – einbezogen wurden und sich ein stabiles und auch bei Konflikten tragfähiges Zusammenleben etabliert habe. Doch trotz solcher Best Practice-Beispiele überwiege eine Erfahrung: Kaum je werde direkt mit den Menschen vor Ort gesprochen, die von Obdachlosigkeit betroffen sind; sie werden vielfach zu bloßen Objekten einer Sozialpolitik, bei denen Menschen in ihrer Würde, in ihren konkreten Bedürfnissen und Möglichkeiten außen vor bleiben.
Obdachlosigkeit, so das Fazit der Diskussion, betrifft Menschen mit individuellen Lebensgeschichten und Hintergründen; und Obdachlosigkeit hat viele Facetten und Dimensionen: Dafür gibt es nicht die eine Lösung. Die massive Verdrängung sichtbarer Obdachlosigkeit aus dem öffentlichen Raum – z.B. über strategische menschenfeindliche Gestaltung von Parkbänken oder Aufenthaltsbereichen – findet eine Entsprechung darin, dass „Behausung“ durch die Ökonomisierung von Wohnraum zunehmend prekär wird: Lebenswertes Wohnen ist für eine zunehmende Zahl von Menschen – längst nicht nur „an den Rändern der Gesellschaft“ – kaum mehr leistbar. Die Segregation in Städten nimmt zu, auch in (Mittel-)Europa sind mittlerweile Phänomene der Slumbildung zu beobachten. Obdachlosigkeit sickert als potenzielle Bedrohung in die Mitte der Gesellschaft – dem wirksam entgegenzusteuern wird das Engagement von Vereinen, Ehrenamtlichen und der Zivilgesellschaft allein nicht ausreichen.
20.6.2025/RK

