Heft 1/2020: Kapellen. Orte individueller Andacht

Komprimierter und konzentrierter Ausdruck des Sakralen, individueller Ort des Rückzugs, der Besinnung und Reflexion, ein Raum großer künstlerischer Freiheit: Kapellen zeigen sich in mehrfacher Hinsicht zeitgemäß, offen und anschlussfähig. Formen, Gestaltungen und Neu(er)findungen werden im aktuellen Heft vorgestellt, gefragt wird aber auch, wie das „Phänomen Kapelle“ zu interpretieren ist.

Vorwort

Wegen ihrer architektonischen Qualität sorgen Kapellenbauten für Aufmerksamkeit, allen voran Peter Zumthors Bruder-Klaus Kapelle in Wachendorf. Sie ist eine Essenz spirituellen Bauens und an ihrem Erfolg zeigt sich, dass heute nicht das Monumentale, sondern das komprimierte und konzentrierte Format für das Sakrale als adäquater Ausdruck empfunden wird.

ArchitektInnen können hier, mit nur wenigen funktionalen Vorgaben belastet, in künstlerischer Freiheit einen Raum mit einer dichten Atmosphäre schaffen. Die BesucherInnen suchen kein Gemeinschaftserlebnis, sondern Rückzug und (Selbst-)Besinnung, ihr Verhalten folgt einer individuell geformten ‚Liturgie‘. Häufig entstehen die neuen Kapellen auf private Initiative hin. Für StifterInnen verbindet eine Kapelle Repräsentanz und privates Glaubensanliegen auf individuell gestaltbare Weise.

Ein Beispiel dieser privaten Initiativen sind die Autobahnkapellen, die seit den 60er Jahren mit dem modernen Kapellenbau experimentieren. Hier anknüpfend stellte ein Entwurfsseminar am Fachbereich Architektur der Technischen Universität Kaiserslautern künftigen ArchitektInnen die Aufgabe, eine Autobahnkapelle zu entwerfen. Des Weiteren lässt in diesem Heft der Architekturkritiker Falk Jaeger eine Vielzahl neuer Wege-, Landschafts- und Bergkapellen Revue passieren. Sie schaffen markante Ort des Verweilens, sei es im alltäglichen Umfeld oder in besonderer Landschaft. Der Kunsthistoriker Steffen Zierholz zeichnet Verbindungslinien vom Kapellenbau der Vormoderne bis in die unmittelbare Gegenwart. Aus der Sicht einer Bild- und Ideengeschichte beschreibt der Kultur- und Kunstwissenschaftler Jörg Probst kleine Andachtsorte aus Beton als moderne Höhlenarchitekturen. Kapellen werden oftmals erbaut an vorgeprägten Orten, auf deren genius loci sie in ihrer Gestaltung antworten. Hierzu befragt Peter Schüz ‚Heilige Orte‘ aus religionsästhetischer Sicht und stellt fest: das Heilige ist schwer dingfest zu machen, ist mehr Ereignis als Ort.

Eine hybride Form zwischen Kunst und Religion sind die ‚Kapellen‘ auf der Museumsinsel Hombroich, in denen man sich mit dem Humanwissenschaftler Andreas Rauh auf das leibliche Spüren besinnen und sich nach der Wahrnehmungsweise von Atmosphären fragen kann. Sind die zahlreichen sakralen Kleinbauten ein Beweis für den fortschreitenden Individualisierungsprozess? Geht es nach der Architektursoziologie, so Uta Karstein, wäre diese Frage zu bejahen. Doch Architektur spiegelt nicht nur gesellschaftliche Verhältnisse, sie konstituiert sie selbst mit. Eine private Stiftung lässt sieben Holzkapellen entlang einer Radstrecke für einen zeitgeistigen Pilgermodus errichten, den der Theologe Markus Geissendörfer in Begleitung seines Sohnes im Selbstversuch erkundet hat. Wolfgang Jean Stocks Beispiele aus Finnland zeigen einen Typus von Kirchenbau, der sich aus Kapellenformat und Gemeindezentrum zusammensetzt und so dem Sakralen und dem Alltäglichen gerecht wird.

Claudia Breinl und Birgit Weindl (Heftredaktion)

Mit Beiträgen, Berichten und Rezensionen von Dirk Bayer, Claudia Breindl, Johanna Di Blasi, Heinrich Geißendörfer, Markus Geißendörfer, Falk Jäger, Uta Karstein, Alois Kölbl, Hannes Langbein, Matthias Ludwig, Sascha Mintkiewicz, Christhard-Georg Neubert, Jörg Probst, Andreas Rauh, Peter Schüz, Wolfgang Jean Stock, Birgit Weindl und Steffen Zierholz.

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