Fundort des Jägerstätter Textes in St. Radegund

Ein überraschender Fund in St. Radegund

Es ist ungewöhnlich, dass nach Jahrzehnten intensiver Jägerstätter-Forschung wieder ein neues Jägerstätter-Schriftstück auftaucht. Der letzte vergleichbare Fund liegt zwölf Jahre zurück, als Dr.in Erna Putz die Briefe Franz Jägerstätters an seinen Freund Rudolf Mayr bzw. dessen Frau Maria entdeckte. (Bericht der Diözese Linz) Im September 2021 ist von Wilhelm Peterlechner aus St. Radegund ein beidseitig handbeschriebenes DinA4 Blatt dem FFJI übermittelt worden. Der Hofforscher war im Rahmen von Recherchen zu einer Höfechronik in Nachlassmaterialien eines privaten Haushaltes zufällig darauf gestoßen, in der Vermutung, dass es sich dabei um einen Text Jägerstätters handeln könnte. Nachdem wir das Material, das Schriftbild und den Inhalt des Dokuments begutachtet hatten, stand zweifelsfrei fest, dass wir es hier tatsächlich mit einem neuen Jägerstätter-Originaltext zu tun haben. Als erste Besonderheit ist festzuhalten, dass das neue Original nicht aus dem Besitz der Familie oder näheren Verwandtschaft Jägerstätters stammt. 

Unter Umständen ist es einer der letzten Texte, den Jägerstätter vor der Verhaftung am 2. März 1943 verfasste. Das Schriftstück selbst ist undatiert und enthält keinen Adressaten. Es gleicht damit in Papier, Format und Paginierungsweise anderen Schriften, die auf losen Blättern erhalten geblieben sind. Für eine Datierung Anfang 1943 (Jänner/Februar, ev. sogar nach Erhalt des Einberufungsbefehles am 23.2.1943) spricht die Erwähnung des „Anschlusses“ im März 1938 als ein Ereignis, das bereits fünf Jahre zurücklag. Mag Jägerstätter die Zeitspanne auch auf fünf Jahre aufgerundet haben, muss der Text zu mindestens Ende 1942 entstanden sein. Der Inhalt anderer loser Blätter findet sich oft wortgleich in einem der drei Hefte wieder, die Jägerstätter in der Entscheidungsphase 1941/42 verfasst hatte. Der Inhalt des neu entdeckten Dokuments deckt sich hingegen in keinem Abschnitt mit bereits bekannten Jägerstätter-Texten.

Die Überlieferung des Dokuments ist schwer zu erklären. Als einziger Hinweis dient auf der Rückseite unten ein handschriftlich hinzugefügtes „Adam“, das nicht von Jägerstätter selbst stammt. Adam war der Haus- bzw. Hofname von Jägerstätters Mutter Rosalia Jägerstätter, geb. Huber. Zur betreffenden Zeit lebten in der Adamsölde, Hadermarkt 22, neben der Tante Anna Huber (geb. Schröck) noch einige Cousins und Cousinen Jägerstätters. Falls sich das Dokument zunächst in den Händen der Adamfamilie und somit der unmittelbaren Verwandtschaft befunden haben sollte, so bleibt dabei ungeklärt, ob Jägerstätter es direkt dorthin weitergeben hatte, oder es etwa später dorthin gelangt war. Die Verbindung von der Familie Huber vulgo Adam zur Familie, in der das Dokument gefunden wurde, wäre jedenfalls gegeben. Ein Mitglied der Adamfamilie war Pate des verstorbenen Vaters der Besitzerin, in dessen Unterlagen das Dokuments vor einigen Monaten entdeckt wurde. Sie hat dankenswerter Weise das Original dem FFJI übertragen und ermöglicht, dass der Text in der digitalen Jägerstätter Edition enthalten sein wird.

Zwei Seiten voller persönlicher Facetten

Wir können von einem Text sprechen, der einige unbekannte Elemente im uns bekannten Schrifttum des Seligen Franz Jägerstätters aufweist. Das Besondere an dem handgeschriebenen Text sind bereits die Einleitungsworte „Wie kam ich eigentlich auf die Idee nicht einzurücken.“ Viele Schriften Jägerstätters beginnen mit einer Frage. Sie sind stets Ausgangspunkt für eine Argumentation oder religiöse Erörterung. Im neuen Text tritt eine andere Ebene in den Vordergrund, nämlich die zeitliche Abfolge: Wie und wann haben die Gedankengänge ineinandergriffen, so dass schließlich für Jägerstätter klar war, dass die Wehrdienstverweigerung moralisch richtig ist und auch nicht der katholischen Lehre widerspricht. So beginnt Jägerstätter damit, dass er vor einem Jahr in etwa mit der Angst erfüllt war, wieder einrücken zu müssen. Sein Ausgangspunkt war dabei, dass es religiös geboten ist, der weltlichen Obrigkeit grundsätzlich zu gehorchen, auch wenn diese nicht christlich sei. „So dachte ich mir auch immer, was sie zum Gesetze machen können, darf mit der Partei nichts zu tun haben, so war ich halt des Glaubens […] was man zum Gesetze macht oder machen kann, folgen zu müssen. Dachte weiters darüber nicht nach…“ Dass es keine Sünde sein kann, wenn er dem Befehl zur Einberufung nicht folgen würde, verdankte Jägerstätter dem Wirken Gottes: „Als ich aber meine Zuflucht zu Gott nahm, […] schickte er mir aber dadurch Rettung …“ Für die Jägerstätter Biografin Dr.in Erna Putz „betont und unterstreicht Jägerstätter in dieser Aufzeichnung die spirituelle Dimension seiner Entscheidung und gibt damit detaillierter als in ähnlichen Stellen die inneren Kämpfe und gedanklichen Schritte wieder, die zu seiner Verweigerung des Kriegsdienstes in der Deutschen Wehrmacht geführt haben.“

Eine Bestätigung des neuen Gedankens fand Jägerstätter wenig später, als neue Plakate angebracht wurden, wonach der Beitritt zur HJ eine gesetzliche Pflicht für Kinder zwischen 10 und 18 Jahren war. Damit war für ihn der Beweis erbracht, dass der Nationalsozialismus nicht nur Partei war, sondern auch den Staat und seine Gesetzgebung völlig durchdrungen hatte. „Wenn man also auch solches zum Gesetze machen kann, so wurde mir die Sache immer klarer…

Im zweiten Teil des Textes, der gedanklich nicht immer leicht mitzuverfolgen ist, kehren Elemente wieder, die von Jägerstätter bereits bekannt sind. Dennoch stößt man auch hier auf Überraschungen.  Jägerstätters Grundgedanke dabei: Da nicht die deutsche Volksgemeinschaft, sondern Österreich unser Vaterland ist, befinden wir uns seit dem „Anschluss“ im März 1938 in Gefangenschaft. Dass nun Gefangene gleich nach der Niederlage bzw. Gefangennahme für eine neue Macht kämpfen sollen und dies dann immer damit legitimiert sei, dass man ja nur der weltlichen Autorität folgen müsse, sei schwer vorzustellen und eigentlich auch historisch unüblich. Neu ist in diesem Zusammenhang auch, dass Franz Jägerstätter als Illustration den Tiroler Freiheitskämpfer Andreas Hofer anführt, der nach seiner Niederlage auch nicht aufgefordert wurde, nun für die Franzosen zu kämpfen. 

Das Textende ist ein weiterer Beleg dafür, dass Jägerstätter kein absoluter Wehrdienstverweigerer war, sondern sich an der Lehre vom gerechten Krieg orientierte. Die NS-Kriege als "Vaterlandsverteidigung" umzuinterpretieren lehnte er vehement ab: "Das hätten wir höchstens so betrachten können, wenn wir vor fünf Jahren vom Kanzler Schuschnigg zum Kampfe aufgefordert [Text bricht hier ab]" Militärischer Widerstand im März 1938 gegen den "Anschluss" hätte definitorisch als Verteidigungskrieg gegolten. Der Verteidungsfall ist ein Kriterium der Theorie des gerechten Krieges. Die Einfügung "höchstens" weist aber darauf hin, dass nicht jeder Verteidigungskrieg sogleich ein gerechter Krieg ist, sondern dass darüberhinaus weitere Bedingungen (etwa die Verhältnismäßigkeit) erfüllt sein müssen. 

Der Wert des Dokuments für die Forschung

Der neue Text wirft unser Jägerstätter-Bild klarerweise nicht über den Haufen. Der Inhalt steht im eindeutigen Gleichklang mit den bekannten Jägerstätter Überlegungen zum gerechten Krieg, zum anti-christlichen Charakter des NS-Regimes und dem Verhältnis zwischen religiösen und weltlichen Obrigkeit. Dennoch erhält das neue Dokument eine eigene Bedeutung für die Jägerstätter-Forschung.  Spannend ist dies vor dem Hintergrund einer internationalen Entwicklung. Nach 1945 begann die katholische Tradition des Gehorsams im Bereich des Wehrdienstes zu bröckeln. Die Argumente und Beispiele, die dabei von Katholiken vorgebracht wurden, glichen dabei frappant jenen, die Jägerstätter in diesem Text verwendete. Diese inner-katholische Auseinandersetzung brauchte es, damit die katholische Kirche langsam aber doch, die Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen (so auf dem 2. Vatikanischen Konzil) zu akzeptieren begann. Jägerstätter war ein wichtiger Baustein hierfür.  

Das FFJI bei der langen Nacht der Forschung

Die Präsentation des neuen Dokuments fand im Rahmen der diesjährigen Langen Nacht der Forschung am 20. Mai 2022 statt. Das FFJI nahm im Rahmen der Katholischen Privat-Universität Linz an diesem Event teil. Am Vortag des Gedenktages des seligen Franz Jägerstätters bot sich so die Möglichkeit, den neuen Fund vorzustellen sowie das Forschungsinstitut kennen zu lernen. Bericht

Zitation

Schmoller, Andreas. "Neues Jägerstätter Schriftstück entdeckt" Franz und Franziska Jägerstätter Institut, 22.5.2022. https://ku-linz.at/forschung/franz_und_franziska_jaegerstaetter_institut/forschungsblog/artikel/neues-jaegerstaetter-schriftstueck-entdeckt