Vom Gedanken zum Gedenken. Andreas Schmoller über historisches Lernen.

"Vom Gedanken zum Gedenken" lautet die Titel-Story der Wochenendbeilage der Oberösterreichischen Nachrichten. Gedenkfeiern leben von Emotionen und Ritualen, es bedarf jedoch des Lernens, des Erkennens von Zusammenhängen, des Verstehens und Reflektierens, um Wissensbestände zu erschließen. Andreas Schmoller widmet sich in seinem Beitrag dem schwierigen Gedächtnis: "Wagen wir mehr Geschichte, gerade in dieser geschichtsträchtigen Gegenwart erweist sich das als sinnvoll".

Das schwierige Gedächtnis

Wenn Sie das Wort "Gedächtnis" hören, denken Sie dann auch zuerst an das menschliche Gehirn? Dieses kann sich unzählige Dinge bis ins kleinste Detail merken, kann aber auch recht unzuverlässig sein und besonders im Alter Pathologien entwickeln. Ist das Gedächtnis also eine individuelle Sache im Inneren des Menschen? Der französische Soziologe Maurice Halbwachs hat schon vor 100 Jahren gezeigt, dass nahezu das Gegenteil richtig ist. Unser Gedächtnis ist von sozialen Rahmenbedingungen bestimmt. Wie und was wir erinnern, hängt nicht nur von Sprache, sondern auch von Familie, Beruf , Milieu, Nation, Religion etc. ab. Selbst die individuellsten Erlebnisse, bei denen wir allein oder zu zweit waren, werden zu Erinnerungen, die durch kollektive Darstellungsformen sowie Wert und deutungsrahmen strukturiert werden. Mehr noch: Diese sozialen Rahmen und ihre jeweiligen Medien – vom Fotoalbum bis zum historischen Spielfilm – sorgen dafür, dass wir eine ungeheure Menge an Vergangenheit vermittelt bekommen, die wir gar nicht selbst erlebt haben, aber später trotzdem erinnern. Geteilte Erinnerungen schaffen Gemeinsamkeiten, so zum Beispiel in Familien, aber auch in Nationalbewegungen oder Religionen. Unser individuelles Gedächtnis ist in Inhalt und Form Kollektiv bedingt.

Erinnerung ist Kraftquelle und Schmerz

Erinnern ist zudem ein vielgestaltiges Phänomen und hört nicht bei Nostalgie auf. Erinnerung ist Kraftquelle, sie ist mitunter Schmerz und daher verdrängt, sie ist Erfahrungsschatz und als solcher Kompass in der Gegenwart. Erinnerung ist aber auch Waffe, die Vergangenheit manipuliert, um in der Gegenwart aufzustacheln. Kurz: Erinnerung ist existenziell und politisch.

Mit Blick auf die kollektive Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus gilt daher vor allem eines: Erinnern geht nicht ohne eine klare Kenntnis der Inhalte! Gedenkfeiern leben von Emotionen, Ritualen, dem Bekenntnis zu Werten und sind so Gemeinschafts- und Identitätsstiftung. Die Erkenntnisse und Wissensbestände dahinter erschließen sich jedoch ganz anders, nämlich über das Lernen von Inhalten, Erkennen von zusammenhängen, Verstehen von Kontexten, Reflektieren des gesamten historischen Konstrukts, das wir uns von der Vergangenheit machen.

Historisches Lernen ist folglich anstrengend. Die Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust ist hochgradig komplex und schwer zumutbar. So ist es nicht verwunderlich, dass Jugendliche und selbst Geschichte-Studierende subjektiv den Holocaust für sehr präsent in ihrem Geschichtsbild halten, aber sachlich über ihn immer weniger wissen. Der Völkermord an den europäischen Juden wirkt daher in erster Linie als Chiffre für "das Böse" bzw. "das Verbrechen" und entschwindet somit aus dem konkret Historischen.

Unser kollektives Gedächtnis ist daher nicht zu verwechseln mit der Geschichte. Diese gilt es mühsam zu erkunden, sonst verbleibt Erinnerung im Ritual, in der inhaltlichen Inflation oder gar Perversion. Deshalb: Wagen wir mehr Geschichte, gerade in dieser geschichtsträchtigen Gegenwart erweist sich das als sinnvoll. Und für unser Gedächtnis wäre es das Beste.

Dr. Andreas Schmoller leitet seit 2018 das Franz und Franziska Jägerstätter Institut an der Katholischen Privat-Universität Linz.  

Quelle: OÖN 7.5.2022, Wochenende/Magazin, Seite 3. Foto: A. Neumayr.

PODCAST: Erinnern. Wie wichtig ist das Gedenken für eine Gesellschaft? In der Reihe "Mystik und Geist" sprechen Mag.a Gudrun Blohberger (KZ-Gedenkstätte Mauthausen) und Dr. Andreas Schmoller (Franz und Franziska Jägerstätter Institut der KU Linz).

VERANSTALTUNGSHINWEIS: Im Rahmen der Langen Nacht der Forschung  am 20. Mai 2022, widmet sich Andreas Schmoller um 18:00 Uhr der Frage "Gibt es noch einen verborgenen Jägerstätter?". Er gibt dabei Einblick in die spannende Forschungstätigkeit des Instituts und stellt - am Vorabend des Jägerstätter-Gedenktages - ein neu entdecktes Schriftstück des Seligen Franz Jägerstätters der Öffentlichkeit vor.

8.5.2022/HE