Gutes Leben durch die Wirtschaft? Eine theologisch-ethische Kritik der Dominanz der Ökonomie - dargestellt am Einfluss der Rede vom 'ökonomischen Sachzwang' auf die menschliche Orientierung und Sinnerfahrung
Ökonomisches Denken hat in den letzten Jahrzehnten eine gewaltige, kaum zu ermessende Dominanz über praktisch alle Bereiche der Gesellschaft erlangt. Offenkundig und unübersehbar trifft das auf den Bereich der Politik zu – Politiker reden freimütig davon, dass nicht mehr die Politik, sondern die Wirtschaft den Primat des Handelns innehabe. Es gilt aber auch für Bereiche, die ihrem eigenen Selbstverständnis nach gerade dadurch definiert sind, dass sie sich wirtschaftlichem Kalkül entziehen: Sport ist zum knallharten Geschäft geworden. Wissenschaft und Forschung werden immer stärker unter die Forderung gestellt, sich rechnen und auszahlen zu müssen. Bildung ist primär Ansammlung von „Humankapital“. Religionsgemeinschaften suchen nicht nur für wirtschaftliche, sondern auch für pastorale (!) Strategien die Hilfe von Wirtschaftsberatungsunternehmen. Und selbst den intimsten Bereich menschlichen Lebens, die persönlichen Freundschaften und die Familie, betrachten wir heute aus ökonomischer Sicht: Wir fragen uns, ob sich die weitere „Investition“ in eine Beziehung noch lohnt oder ob es nicht klüger wäre, diese Beziehung zu beenden. Kein Zweifel: Ökonomie ist nicht nur stark mittels des materiellen Kapitals, das sie in Händen hält, sondern beherrscht als Wahrnehmungsweise (!) unser Denken und Handeln. Damit gewinnt ökonomisches Denken massiven Einfluss im Sinne gesamtmenschlicher Orientierung. Sichtbar oder unsichtbar prägt es unsere Vorstellungen von Sinn, Glück, Erfüllung. Das kann die Theologie nicht kalt lassen. Schließlich beansprucht klassisch die Religion, jene Instanz zu sein, die vorrangig für die Vermittlung von Sinn und Erfüllung verantwortlich und zuständig ist. Wie also deutet und bewertet die Theologie die Orientierungsleistung, die die moderne Ökonomie faktisch leistet? Welche ethischen Konsequenzen zieht sie daraus für den Umgang mit ihr? Dieser zentralen Frage geht die vorliegende Dissertation nach. Paradigmatisch diskutiert sie das Problem an Hand eines Arguments, das in öffentlichen Debatten heute oft zu hören ist: Das Argument vom ökonomischen Sachzwang. Dabei ist zunächst unerheblich, ob der Sachzwang tatsächlich existiert oder nur behauptet wird. Schon seine Behauptung wirkt nämlich im Regelfall wie ein Killerargument, gegen das sich jeder weitere Einwand erübrigt.
Dissertation von Edeltraud Koller, 2006