Tag des Judentums 2022: Das Phänomen Antisemitismus in Geschichte und Alltag.

Zahlreiche Teilnehmer*innen folgten der Einladung des Christlich-jüdischen Komitees zur Online-Veranstaltung zum Tag des Judentums am 18. Jänner 2022 an der Katholischen Privat-Universität Linz. Unter dem Titel "Warum immer wieder 'die Juden'? Antisemitismus in Verschwörungstheorien, Vorurteilen und aktuellen Erfahrungen" referierten und diskutierten Assoz.-Prof. Roland Cerny-Werner (Salzburg) und Generalsekretär Benjamin Nägele (IKG Wien) das Phänomen des Antisemitismus.

Der "Lerntag", der anlässlich des Tags des Judentums am 18. Jänner 2022 vom Christlich-jüdischen Komitee an der KU Linz veranstaltet wurde, widmete sich einer gegenwärtig wieder zuhöchst aktuellen Problematik. "Leider vergeht ja kaum ein Tag an dem nicht in den Medien über antisemitische Vorfälle berichtet wird", so Günter Merz, Mitglied der evangelischen Kirche im christlich-jüdischen Komitee, bei seiner Begrüßung. Der Aufgabe, das Phänomen des Antisemitismus genauer unter die Lupe zu nehmen, stellten sich Dr. Roland Cerny-Werner, Assoz.-Prof. für Patristik und Kirchengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Paris Lodron Universität Salzburg und Mitglied des Zentrums für Jüdische Kulturgeschichte, und Benjamin Nägele, M.A.I.S., Generalsekretär der Israelitischen Kultusgemeinde Wien. Pandemiebedingt wurden die Teilnehmenden online zugeschaltet.

Bei seiner "Historischen Einführung in den Antisemitismus" verfolgte Assoz.-Prof. Cerny-Werner die Wurzeln des Antisemitismus bis zum antiken Vorwurf des "Gottesmordes" zurück, welcher ab dem 2. Jahrhundert dazu diente, Ausschließung und Gewalt an Jüdinnen und Juden religiös zu legitimieren. In der Spätantike bildete die Judenfeindlichkeit eine wichtige Säule der christlichen Identitätsbildung und fungierte insbesondere als Negativkonstruktion sowie bewusst betriebenes ‚Othering‘ zur Schärfung und Festigung des überhöhten ‚Eigenen‘ der christlichen Mehrheitsgesellschaft. Der zweite Teil des Vortrags illustrierte die semantischen Brüche und Verschiebungen, die sich in der Neuzeit mit dem Übergang vom Antijudaismus zu einem biologistisch und sprachtheoretisch untermauerten Antisemitismus verzeichnen lassen. Wer Antisemitismus als Weltanschauung annehme, so der Kirchenhistoriker, der*die erblicke in der Ausrottung des Anderen die einzige Möglichkeit zum Überleben und zur Befreiung des Eigenen – wie sich dies etwa im Nationalsozialismus auf radikale Weise manifestierte. 

Nach der ersten historischen Perspektive beleuchtete Generalsekretär Nägele, der von Dr.in Charlotte Herman (Präsidentin der israelitischen Kultusgemeinde Linz) vorgestellt wurde, vor allem die gegenwärtigen Phänomene des Antisemitismus. In den letzten Jahren, so Nägele, sei die Zahl antisemitischer Vorfälle in Österreich stark angestiegen. 2021 waren sogar Rekordzahlen an antisemitischen Taten zu verzeichnen (vgl. https://www.antisemitismus-meldestelle.at/), was einerseits mit dem erneuten Aufkeimen des Israel-Palästina-Konfliktes, vor allem aber auch mit den Bedrängnissen durch die Corona-Pandemie und den in diesem Kontext laut gewordenen Verschwörungstheorien zusammenhinge. Deshalb sei es aber gerade in Bezug auf Verschwörungsmythen, die Antisemitismen befeuern, problematisch von "Theorien" zu sprechen, handle es sich dabei doch über keine wissenschaftlich überprüfbaren Erklärungen, sondern um völlig unhaltbare und irrationale Erzählungen, die sich ganz klassisch in die seit Jahrhunderten tradierten antisemitischen Stereotypen einreihten. Von daher Nägeles Plädoyer: "Jede und jeder einzelne von uns hat das Recht auf seine eigene Meinung, aber niemand hat das Recht auf seine eigenen Fakten." 

Gespräch und Diskussion

Mag. Martin Kranzl-Greinecker, Chefredakteur der Fachzeitschrift UNSERE KINDER (Caritas Linz) und Vorstandsmitglied des Mauthausen Komitees Österreich (MKÖ), führte anschließend durch das Gespräch mit den Referenten. Mag.a Klara Porsch, Referentin des Katholischen Bibelwerks, betreute den Chat und brachte die Fragen und Beiträge der online Teilnehmenden in die Diskussion ein. Diese bezogen sich u.a. auf die Ähnlichkeit des Ritualmord-Mythos mit der während der letzten zehn Jahre in Amerika stark gewordenen QAnon-Verschwörungsideologie, die, wie Cerny-Werner bestätigte, einen "sehr intensiven antisemitischen Kern hat" und deren Elemente sich auch in den europäischen Anti-Corona-Bewegungen finden. Doch selbst im Vatikan sei man vor Verschwörungsthesen nicht gefeit, wie etwa die jüngeren Aussagen Kardinal Müllers bewiesen.  

Mag.a Isabella Bruckner, Referentin für Ökumene und Judentum und Univ.-Ass.in am Institut für Fundamentaltheologie und Dogmatik der KU Linz, lenkte das Gespräch auf die "Nationale Strategie gegen Antisemitismus", welche die Republik Österreich 2021 "zur Verhütung und Bekämpfung aller Formen von Antisemitismus" verabschiedet hatte. Zentral sei dabei das Österreich-jüdische Kulturerbegesetz, das jüdisches Leben – wie etwa die vier Kultusgemeinden in Wien, Graz, Linz und Salzburg – in Gegenwart und Zukunft nachhaltig absichern solle. Nur ein Teil beträfe dabei aber Sicherheit im unmittelbaren Sinn des Wortes. Andere Bereiche seien "Jugendförderung – Kultur – Veranstaltungen, interreligiöser Dialog", so Nägele. Dies sei wohl auch das beste Instrument gegen den Antisemitismus: "Interesse an positiv konnotiertem Judentum in Gegenwart und Zukunft, Interesse an positiv konnotiertem Judentum vor allem bei den Jugendlichen."  

Ein Video der Veranstaltung ist am YouTube-Kanal der KU Linz verfügbar.

Ein Podcast, gestaltet von Sandra Knopp und Udo Seelhofer, ist bei "Studio Omega" verfügbar.

20.1.2022/Text: Isabella Bruckner