Papst Leo XIV.: Dilexi te – Eine Theologie der radikalen Nähe zu den Armen.
"Dilexi te" – Eine Theologie der radikalen Nähe zu den Armen
Erste Einordnung und Würdigung der Apostolischen Exhortation von Papst Leo XIV.
Von Klara A. Csiszar
Die Apostolische Exhortation “Dilexi te” von Papst Leo XIV. entstand in einem außergewöhnlichen Übergang päpstlicher Nachfolge und stellt eine bemerkenswerte Kontinuität des lehramtlichen Engagements für die Armen dar. Die Entstehungsgeschichte dieses bedeutsamen Dokuments ist eng mit der vorangehenden Enzyklika “Dilexit nos” von Papst Franziskus verknüpft und zeigt die ungebrochene Tradition der Kirche in ihrer vorrangigen Option für die Armen.
Die Exhortation erläutert die besondere Entstehungsgeschichte im Text selbst: “Aus diesem Grund bereitete Papst Franziskus, in Fortsetzung der Enzyklika Dilexit nos, in den letzten Monaten seines Lebens ein Apostolisches Schreiben über die Sorge der Kirche für die Armen und mit den Armen vor, das den Titel Dilexi te tragen sollte” (3). Das Dokument war also bereits in den Planungen von Papst Franziskus angelegt, der es als Fortsetzung seiner Herz-Jesu-Enzyklika “Dilexit nos” vom 24. Oktober 2024 konzipiert hatte.
Die einzigartige Situation entstand durch den Tod von Papst Franziskus, bevor er das geplante Dokument vollenden konnte. Sein Nachfolger Leo XIV. übernahm dieses Erbe und machte es zu einem seiner ersten päpstlichen Dokumente: “Da ich dieses Projekt gewissermaßen als Erbe erhalten habe, freue ich mich, es mir unter Hinzufügung einiger Überlegungen zu eigen zu machen und es noch in der Anfangsphase meines Pontifikats vorzulegen” (3).
“Dilexi te” baut also bewusst auf der Franziskus-Enzyklika “Dilexit nos” über die Liebe des Herzens Christi auf. Der Titel selbst – „Ich habe dir meine Liebe zugewandt" – ist eine direkte Fortsetzung der christologischen Reflexion über die göttliche Liebe. Das Dokument betont diese Kontinuität: “Die Liebeserklärung der Offenbarung verweist auf das unerschöpfliche Geheimnis, das Papst Franziskus in seiner Enzyklika Dilexit nos über die göttliche und menschliche Liebe des Herzens Christi vertieft hat” (2).
Die theologische Bedeutung
“Dilexi te” offenbart die zentrale theologische Wahrheit des Christentums: Die untrennbare Einheit zwischen Gottesliebe und Armenliebe ist nicht bloß ein moralisches Gebot, sondern das Herz der christlichen Offenbarung selbst. Der Titel der Exhortation enthüllt eine radikale theologische Umkehrung: Nicht wir wenden uns den Armen zu, sondern Christus wendet sich uns in den Armen zu. Diese christologische Fundamentierung durchzieht das gesamte Dokument: “Der Kontakt mit denen, die keine Macht und kein Ansehen haben, ist eine grundlegende Form der Begegnung mit dem Herrn der Geschichte. In den Armen hat er uns auch weiterhin noch etwas zu sagen” (5). Die Armen werden damit zu lebendigen Offenbarungsorten, zu Sakramenten der göttlichen Gegenwart.
Die Salbungsperikope von Bethanien (Mt 26,8-9.11) offenbart eine zentrale theologische Wahrheit: Während die Jünger die kostbare Salbung als “Verschwendung” kritisieren und eine vermeintlich praktischere Armenspende vorschlagen, versteht die Frau intuitiv die wahre Identität Jesu als „demütiger und leidender Messias" (4). Ihre scheinbar kleine Geste der Zuneigung wird von Jesus als zeitlos gültig bestätigt: “Auf der ganzen Welt, wo dieses Evangelium verkündet wird, wird man auch erzählen, was sie getan hat, zu ihrem Gedächtnis” (Mt 26,13). Das Dokument zeigt, dass “die Einfachheit dieser Tat etwas Großes” offenbart (4) – nämlich dass keine Geste der Zuneigung vergessen wird, “besonders wenn sie denen gilt, die in Schmerz, Einsamkeit und Not sind, wie es der Herr in dieser Stunde war” (4). Die Perikope demonstriert, dass wahre Liebe den konkreten, leidenden Menschen vor abstrakten moralischen Prinzipien sieht.
“Dilexi te” entwickelt eine radikale Inkarnationstheologie: “Er ist selbst arm geworden, gerade um die Beschränkungen und Schwächen unserer menschlichen Natur zu teilen” (16). Diese “radikale Armut” Christi ist nicht akzidentiell, sondern wesentlich für das Erlösungswerk. Sie dient dazu, “das wahre Antlitz der göttlichen Liebe zu offenbaren” (18). Die vorrangige Option für die Armen wird damit als “vorrangige Option Gottes” theologisch begründet: “Es ist also gut nachvollziehbar, warum man auch theologisch von einer vorrangigen Option Gottes für die Armen sprechen kann” (16). Diese Option ist nicht exklusiv, sondern universal – sie zeigt Gottes Handeln, “der voller Mitgefühl für die Armut und die Schwäche der ganzen Menschheit ist” (16).
Das Dokument entwickelt zudem auch eine radikale Ekklesiologie: “Ohne Umschweife ist zu sagen, dass […] ein untrennbares Band zwischen unserem Glauben und den Armen besteht” (36). Die Kirche ist nicht nur für die Armen da, sie ist mit den Armen identifiziert. Die berühmte Episode des heiligen Laurentius – “Das sind die Schätze der Kirche” (38) – wird zur ekklesiologischen Grundformel.
Diese Identifikation geht radikal weit, nämlich dass die Armen als “wahre Schätze der Kirche” verstanden werden. Sie sind nicht passive Empfänger, sondern aktive Träger des Evangeliums: “Die Armen sind in äußerst unsicheren Verhältnissen aufgewachsen […] sie vertrauen auf Gott in der Gewissheit, dass niemand sonst sie ernst nimmt […] und haben auf diese Weise vieles gelernt, was sie im Geheimnis ihres Herzens bewahren” (102).
“Dilexi te” entfaltet eine prophetische Theologie, die über individuelle Caritas weit hinausgeht: “Die Strukturen der Ungerechtigkeit müssen mit der Kraft des Guten erkannt und zerstört werden” (97). Das Dokument prangert die “Diktatur einer Wirtschaft, die tötet” (92) an und fordert strukturelle Veränderungen. Dabei wird die Kirche selbst zur Rechenschaft gezogen. Die schärfste Kritik richtet sich gegen eine “spirituelle Weltlichkeit”, die sich “in der Ruhe zu verharren” sucht, “ohne sich kreativ darum zu kümmern und wirksam daran mitzuarbeiten, dass die Armen in Würde leben können” (113). Diese Mahnung greift bewusst den kontroversen Begriff der „spirituellen Weltlichkeit" auf, den Papst Franziskus als „das schlimmste Übel, das der Kirche widerfahren kann" bezeichnet hatte und der heftige Widerspruch auslöste. “Dilexi te” macht nun deutlich, dass spirituelle Weltlichkeit gerade nicht die Zuwendung zu sozialen Belangen bedeutet, sondern deren Vermeidung – sie zeigt sich im Rückzug aus der konkreten Verantwortung für die Armen und in einer “mit religiösen Übungen, unfruchtbaren Versammlungen und leeren Reden heuchlerisch verborgenen” Scheinheiligkeit (113).
Das Dokument entwickelt eine mystische Theologie der Armut: Die Begegnung mit den Armen wird als “Weg der Heiligung” (3) verstanden. Die patristische Tradition wird zitiert: Die Kirchenväter erkannten „in den Armen einen vorzüglichen Weg zu Gott, eine besondere Möglichkeit, ihm zu begegnen" (39). Besonders bedeutsam ist die liturgische Theologie des Dokuments. Johannes Chrysostomus wird zitiert: “Oder was nützt es dem Herrn, wenn sein Tisch voll ist von goldenen Kelchen, er selber dagegen vor Hunger stirbt?” (41) Die Eucharistie wird als “sakramentaler Ausdruck der Nächstenliebe und der Gerechtigkeit” verstanden, die “in der Liebe und Aufmerksamkeit gegenüber den Armen fortgesetzt” werden müssen (41).
Das Gleichnis vom Jüngsten Gericht (Mt 25,31-46) wird als “Schlüssel zu unserer Vervollkommnung” interpretiert (28). Die Armen erscheinen nicht nur als Empfänger der Barmherzigkeit, sondern als eschatologische Richter: “Dort hat uns der Herr den Schlüssel zu unserer Vervollkommnung gegeben, denn wenn wir die Heiligkeit suchen, die in Gottes Augen gefällt, dann entdecken wir gerade in diesem Text einen Maßstab, nach dem wir geurteilt werden” (28).
“Dilexi te” ist mehr als eine Sozialenzyklika – es ist eine fundamentaltheologische Neubestimmung des Christentums. Das Dokument zeigt, dass die Begegnung mit den Armen nicht peripherer Aspekt, sondern das Zentrum der christlichen Existenz ist. Die “vorrangige Option für die Armen” wird als “vorrangige Option Gottes” geoffenbart, die sich in der Inkarnation, im Kreuz und in der fortwährenden Gegenwart Christi in den Geringsten manifestiert.
Die theologische Radikalität liegt darin, dass die Armen nicht als Objekte christlicher Zuwendung, sondern als Subjekte der Offenbarung verstanden werden – als Orte, wo Christus ist, spricht und richtet. Diese Theologie der radikalen Nähe fordert eine Kirche, die nicht nur zu den Armen geht, sondern sich mit ihnen identifiziert und von ihnen evangelisiert wird.
Das Armutsverständnis von “Dilexi te” – Ein theologisches Geschenk der Gegenwart
Eines der wertvollsten Geschenke der Apostolischen Exhortation “Dilexi te” liegt unter anderem in ihrem revolutionären Armutsverständnis, das die gesamte christliche Theologie und Pastoral neu orientiert. Das Dokument durchbricht sowohl soziologische Reduktionismen als auch paternalistische Caritas-Ansätze und entwickelt eine radikal neue Sicht auf die Armen als zentrale Akteure der Heilsgeschichte.
Armut wird als “facettenreiche Problematik” (9) verstanden, die weit über materielle Not hinausgeht und soziale, geistliche, kulturelle, existenzielle und rechtliche Dimensionen umfasst. Diese ganzheitliche Perspektive erkennt, dass “Armut wird immer im Kontext der realen Möglichkeiten eines konkreten historischen Moments analysiert und verstanden” (13). Damit überwindet das Dokument individualistische Schuldzuweisungen und macht deutlich: “Die Armen gibt es nicht zufällig oder aufgrund eines blinden und bitteren Schicksals” (14), sondern als Folge struktureller Ungerechtigkeit.
Dieses umfassende Armutsverständnis stellt ein wahres Geschenk für die Theologie der Gegenwart dar: Es befreit die Armen aus der Objektrolle und erkennt sie als zentrale Akteure der Heilsgeschichte, es überwindet reduktionistische Sozialpolitik durch eine ganzheitliche Anthropologie und es verwandelt die Begegnung mit den Armen von einer moralischen Pflicht zu einer privilegierten Form der Gottesbegegnung. “Sowohl durch eure Arbeit als auch durch euren Einsatz für die Veränderung ungerechter sozialer Strukturen als auch durch eine solch einfache, sehr persönliche und unmittelbare Geste der Hilfe wird es jenem Armen möglich sein zu spüren, dass die Worte Jesu ihm gelten: Ich habe dir meine Liebe zugewandt” (121).
Von der Lehre zur Tat: Konkrete Aufgaben für die Kirchengestaltung
Die Apostolische Exhortation “Dilexi te” ist mehr als ein theologisches Dokument – sie stellt eine grundlegende Herausforderung für die Kirche dar, ihre Strukturen, Prioritäten und ihr Selbstverständnis zu überdenken. Die zentrale Frage lautet: Wie kann die Kirche authentisch eine „arme Kirche für die Armen" werden, wie es bereits Papst Johannes XXIII. forderte und das Dokument eindringlich in Erinnerung ruft? Die Wahl ist eindeutig: Transformation oder Stagnation.
Aufgaben für die Kirchengestaltung – Konkrete Vorschläge:
1. Strukturelle Kirchenreform
- Die Armen als „Subjekte der Evangelisierung" (102) anerkennen und in Entscheidungsprozesse einbeziehen
- Kirchliche Institutionen so umgestalten, dass sie „von den Rändern her" (82) die Wirklichkeit besser sehen
- Eine „Kirche der Armen" entwickeln, die nicht nur für, sondern mit den Armen arbeitet (81)
2. Pastorale Neuausrichtung
- „Vorrangige geistliche Zuwendung" (114) zu den Armen als Kernelement aller Seelsorge etablieren
- Programme entwickeln, die über materielle Hilfe hinausgehen und die Armen als „Lehrer des Evangeliums" (79) anerkennen
- Liturgie und Sakramente mit sozialer Gerechtigkeit verbinden: „Die Eucharistie als sakramentaler Ausdruck der Nächstenliebe" (41)
3. Ausbildung und Bewusstseinsbildung
- Klerus und Laien für die „geheimnisvolle Weisheit" (102) der Armen sensibilisieren
- Ausbildungsprogramme entwickeln, die die Verbindung zwischen Spiritualität und sozialer Gerechtigkeit stärken
4. Soziales Engagement
- Konkrete Maßnahmen gegen die „Diktatur einer Wirtschaft, die tötet" (92) entwickeln
- Kooperation mit Volksbewegungen und zivilgesellschaftlichen Organisationen intensivieren
- Migrantenpastoral als integralen Bestandteil kirchlicher Sendung etablieren
5. Internationale Vernetzung
- Erfahrungsaustausch zwischen Ortskirchen über erfolgreiche Armutspastoral fördern
- Die Stimme der Kirche in internationalen Gremien für strukturelle Gerechtigkeit einsetzen
- Solidarität zwischen reichen und armen Ländern als kirchliche Priorität verankern
6. Spirituelle Erneuerung
- Die Begegnung mit den Armen als „Weg der Heiligung" (3) in die geistliche Begleitung integrieren
- Kontemplation und Caritas als „ein einziges geistliches Gewebe" (47) verstehen
- Almosengabe als spirituelle Praxis wieder entdecken und fördern (115-119)
Diese sechs Reformbereiche bilden ein kohärentes Programm kirchlicher Erneuerung, das nicht optional, sondern existenziell notwendig ist. Wie das Dokument unmissverständlich feststellt: „Sowohl durch eure Arbeit als auch durch euren Einsatz für die Veränderung ungerechter sozialer Strukturen als auch durch eine solch einfache, sehr persönliche und unmittelbare Geste der Hilfe wird es jenem Armen möglich sein zu spüren, dass die Worte Jesu ihm gelten: Ich habe dir meine Liebe zugewandt" (121).
Die Umsetzung dieser Vorschläge würde die Kirche zu dem machen, was sie nach “Dilexi te” sein soll: nicht eine Institution unter vielen, sondern die sakramentale Gegenwart Christi in einer Welt, die nach Gerechtigkeit und Liebe hungert.
9.10.2025/Klara A. Csiszar/HE