Isabella Guanzini: Zur Zukunft der katholischen Kirche unter Leo XIV.
Zur Zukunft der katholischen Kirche unter Leo XIV.: Die Sakralität des Systems muss gesprengt werden
Statt einer Festung muss die Kirche eine offene Baustelle bleiben. Dafür ist es unvermeidlich, Frauen in die religiösen Strukturen und die vollständige Leitung der Gemeinschaft einzubeziehen.
Ein Gastbeitrag von Isabella Guanzini im Berliner Tagesspiegel.
Ein komplexes und anspruchsvolles Konklave hat der Kirche, aber auch der gesamten Welt eine ruhige Kraft verliehen. War Franziskus der Papst, der eine gespaltene, von Skandalen erschütterte und kurz vor der Implosion stehende Kirche – „wie ein zerrissenes Gewand“ – retten musste, so scheint Leo XIV. nun berufen zu sein, auch vor einer säkularen Welt zu sprechen, die in Flammen steht, von Nationalismen geprägt ist, von verheerenden Konflikten erschüttert wird und in einer erstaunlichen politischen und identitären Krise steckt: „Friede sei mit Euch“.
Die ersten Worte des neuen Papstes sind ein Friedenswunsch für alle – nicht nur für die katholischen Gläubigen, sondern besonders für jene, die von Konflikten betroffen sind und keine Hoffnung auf einen Ausweg haben.
Der 69-Jährige in den USA geborene Kosmopolit Robert Francis Prevost rief in seiner ersten Ansprache auf dem Petersplatz dazu auf, „Brücken des Dialogs aufzubauen“ – nicht nur zwischen dem konservativen Lager und dem für Reformen offenen Lager in der Kirche, sondern auch zwischen globalem Süden und westlichen Ländern, zwischen Nationen in Konflikten, zwischen Menschen in einer zunehmend ungleichen Welt, die unter der „Globalisierung der Gleichgültigkeit“ leiden, von der Bergoglio oft gesprochen hat.
Als erster US-amerikanischer Papst der Kirchengeschichte – einst aber Missionar in Peru und Ordensmann im Augustinerorden – scheint er eine wahrhaft globale Persönlichkeit zu verkörpern, die mit ruhiger Stimme ein Zeichen gegen die aktuelle US-Regierung zu setzen vermag.
Franziskus hat Macht und Autorität neu gedacht
Nach dem Ende des Pontifikats Bergoglios ist die katholische Kirche der Gefahr einer Wende beziehungsweise einer Zeit der Verschlossenheit nach den Öffnungen ausgesetzt, der Versuchung einer Rückkehr zur Ordnung und der Wiederbesinnung (nach dem „Trauma Franziskus“), das heißt nach seiner Revolution in Stil, in Sprache und pastoralen Prioritäten.
In den letzten zwölf Jahren hat sich der einst glanzvolle Tempel der katholischen Kirche mit den Wunden der Welt gefüllt: die müden Füße von Migranten, die Narben von Inhaftierten, die Verzweiflung von Obdachlosen und Drogenabhängigen, die Einsamkeit der trans Community und von Sexarbeiterinnen, das Leid der Kranken und die verstümmelten Körper von Kindern, gezeichnet von den Kriegen dieser Welt.
Mit dem Synodalen Weg – vielleicht das bedeutendste Vermächtnis Bergoglios – hat in der katholischen Kirche ein Reformprozess eingesetzt, der das Verständnis von Macht und Autorität neu denkt, die Rolle der Ränder stärkt, Vielfalt und Pluralität im weltweiten Katholizismus aufwertet und selbst jenen Menschen Anerkennung schenkt, die sich am Rand der Institution bewegen.
Im Zentrum steht ein Glaube, der den Zweifel nicht fürchtet und die menschliche, fehlbare Dimension religiöser Erfahrung ernst nimmt. Die Kirche, so die Hoffnung, sollte sich nicht in eine Festung mit verschlossenen Türen verwandeln, sondern zu einem offenen Zelt werden – nah an den Freuden und Hoffnungen, den Leiden und Ängsten der Menschen von heute. Statt selbstreferenziell und verweltlicht zu erscheinen, soll sie sich wieder dem echten Leben und den Rändern der Gesellschaft zuwenden.
Eine synodale Kirche stellt eine glaubende Gemeinschaft dar, die die Vielfalt an Stilen und Ausdrucksformen über dogmatische oder rechtliche Formulierungen stellt. Gott ist kein Buchhalter, sondern ein Vater, der – wie in der lukanischen Parabel vom verlorenen Sohn – dem Heimkehrenden voller Freude entgegenläuft, ohne an Strafe oder Vergeltung zu denken. Es geht um eine Kirche, die sich als „Polyeder“ – und nicht als kompakte Sphäre – wahrnimmt, sich als offene Baustelle interpretiert, und freundschaftliche Allianzen und Bündnisse mit den anderen Religionen und Kulturwelten zu schließen versucht.
Jeder beschränkte Horizont muss aufgebrochen werden
Das Prinzip der Katholizität könnte sich künftig als Dynamik der Öffnung oder als Entgrenzungsprinzip erweisen – als ein Ansatz, der die engen Strukturen und Selbstbezogenheit einer monolithischen Kirche hinter sich lässt und die Bedeutung des Dialogs mit den Anderen stärker in den Mittelpunkt rückt. Denn wenn es der Kirche tatsächlich um das Evangelium geht, muss jeder beschränkte Horizont auf eine je größere Hoffnung hin aufgebrochen werden. Es geht um den Glauben an den einen Gott der Hoffnung, der nicht der Gott einer Gruppe, einer Kirche, einer Religion, sondern der Gott aller Menschen ist.
Dies ist ein unverzichtbarer Prozess innerhalb der Kirche, der gerade erst begonnen hat und den Leo XIV., wie er in seiner Eröffnungsrede bekräftigt hat, mit Überzeugung vorantreiben möchte: „Wir wollen eine synodale Kirche sein, eine Kirche auf dem Weg, eine Kirche, die immer den Frieden sucht, die immer die Barmherzigkeit sucht, die immer besonders denjenigen nahe sein will, die leiden“.
Er präsentiert sich als ein Papst, der in der Lage ist, sich den Ängsten, dem Leiden und den Hoffnungen der heutigen Welt anzunehmen; als ein Papst, der die gesamte Kirche nicht zu einer Festung macht, sondern zu einem gastlichen und bescheidenen Raum für alle. Nochmal Leo XIV: „Man darf nicht der Versuchung erliegen, isoliert zu leben – abgeschottet in einem Palast [...]. Und man darf sich nicht hinter einem Autoritätsverständnis verstecken, das heute keinen Sinn mehr ergibt.“
Brücken des Dialogs zu bauen – als erstes Wort des neuen Pontifikats – könnte dagegen bedeuten, weiterhin nach der synodalen Logik der Allianzen und nicht der Gegensätze zu denken und zu handeln; Geschwisterlichkeit als theologisch-politisches Prinzip der Begegnung mit dem religiös und kulturell anderen weiterzuentwickeln; einen katholischen Stil zu befürworten, der Gastfreundschaft und den Geschmack für die Unterschiede kultiviert und diese Anerkennung in ein kulturelles Bündnis umwandelt; eine offene, nicht ideologische Glaubensgemeinschaft pastoral zu unterstützen, die sich bewusst ist, dass sie ein verletzlicher und offener Raum sein sollte, der auch eine durchaus kritische Instanz darstellt, welche die Überzeugung bekämpft, dass eine Kirche den ultimativen und exklusiven Schlüssel zum Leben in Fülle besitzt.
Die katholische Kirche ist eine globale Institution, die in unterschiedlichsten kulturellen Kontexten verankert ist und durch eine Vielfalt in Ausdrucksformen, Denkweisen und pastoralen Schwerpunkten gekennzeichnet ist. Jeder Versuch, sie in ein vermeintlich geordnetes Bild der Vergangenheit zurückzuführen, würde letztlich ihre lebendige Dynamik ersticken. Der Zusammenhalt und die Einheit – wie sie im Wahlspruch von Leo XIV. „In Illo uno unum“ anklingen – können nicht als Streben nach Uniformität verstanden werden, sondern als offene Dynamik: als kluge, bescheidene und geduldige Fähigkeit, Unterschiede zu verweben, heterogene Fäden respektvoll zu verknüpfen, ohne die Komplexität der Wirklichkeit und die Schönheit des Andersseins preiszugeben.
Die Rolle der Frau muss sich ändern
Eine offene Frage und ein tatsächlich unvollendetes Vermächtnis Bergoglios, das nun dem neuen amerikanischen Papst anvertraut wurde, betrifft die Rolle der Frauen in der Kirche. Wenn man den Wunsch berücksichtigt, den synodalen Weg fortzusetzen, den Geringsten der Erde nahe zu bleiben und Frieden für alle zu fordern, muss man sich auch fragen, wie man glauben kann, dass die Kirche sich für Würde und Einheit einsetzt, ohne sich Frauen gegenüber freier zu öffnen und ihnen eine neue Stellung zu verleihen.
Bevor er Leo XIV. wurde, war Robert Francis Prevost Präfekt des mächtigen Dikasteriums für die Bischöfe, in dem Bergoglio auch drei Frauen ernannte – zur großen Erschütterung vieler: Frauen, die damit die Macht haben, ausschließlich männliche Hirten für die Leitung der Diözesen auszuwählen.
Bergoglio hat unermüdlich ein antisektiererisches und nicht-klerikales Bewusstsein gefördert, das meiner Meinung nach das wichtigste Element gegen jede Ghettoisierung des Christentums und gegen Missbrauch in der Kirche darstellt. Dieser Gegensatz zum Klerikalismus und zu dem, was er als „spirituelle Weltlichkeit“, Selbstbezüglichkeit und sakrales Selbstverständnis bezeichnet hat, erfordert eine wesentliche Veränderung der katholischen Mentalität, die Außerkraftsetzung einer katholischen Pervertierung der Katholizität, welche in den letzten Jahren zunehmend entschiedener an die Öffentlichkeit getreten ist.
Um dieses geschlossene, sakrale und klerikale System aufzubrechen, scheint es heute unvermeidlich, Frauen in die religiösen Strukturen und die vollständige Leitung der Gemeinschaft einzubeziehen. Die drei Frauen im Dikasterium, in dem Prevost bisher tätig war, sind ein wichtiges Zeichen dafür.
Es geht nicht nur um die demokratische Anerkennung der Andersartigkeit, sondern um die Sprengung der Sakralität des Systems, das auf der zölibatären Männlichkeit des Priesters und der nicht-evangelischen Unterscheidung zwischen rein und unrein basiert, die Jesus ausdrücklich abgelehnt hat.
Die Kirche der Zukunft sollte keine Angst vor der Stimme der Frauen, ihrem unermesslichen Wunsch nach Frieden und ihrer unvergleichlichen Kraft zu vereinen haben.
Isabella Guanzini , Dr. theol., Dr. phil., ist seit 2019 Universitätsprofessorin für Fundamentaltheologie an der Katholischen Privat-Universität Linz. Im Wintersemester 2024/25 hatte sie die Guardini-Professur an der Humboldt-Universität zu Berlin inne.
Quelle: Berliner Tagesspiegel, 10.05.2025, 20:00 Uhr
13.5.2025/HE