Isabella Guanzini: Aufruf zu "gefährlicher Erinnerung" an die Novemberpogrome.

Isabella Guanzini, Professorin für Fundamentaltheologie an der KU Linz, hat beim "Mechaye Hametim"-Gottesdienst in der Wiener Ruprechtskirche am 9. November 2025 die heilende Bedeutung des Gedenkens an das Grauen der Novemberpogrome betont, "weil es der Verdrängung entgegentritt".

Wien, 10.11.2025 (KAP) Das Gedenken an die Novemberpogrome von 1938 muss eine "gefährliche Erinnerung" sein, die nichts verdrängt oder selbstgefällig beschwichtigt, sondern wachrüttelt, sensibel macht für das Leid anderer und zu Empathie und Veränderung aufruft. - Das hat die Linzer Theologin Prof. Isabella Guanzini in ihrer Ansprache beim Gedenkgottesdienst am Sonntagabend in der Wiener Ruprechtskirche anlässlich des 87. Jahrestages der Novemberpogrome betont. Die Theologin sprach von einer "Erinnerungskultur, in der die Schuld früherer Generationen zur historischen Verantwortung jüngerer Generationen wird".

Das Gedenken an das Grauen der Novemberpogrome habe zudem eine heilende Bedeutung, "weil es der Verdrängung entgegentritt". Denn: "Was unausgesprochen bleibt, kehrt zurück - stärker, drängender, unheimlicher".

Der Gottesdienst war die zentrale Veranstaltung im Rahmen der "Bedenktage"-Reihe "Mechaye Hametim - Der die Toten auferweckt". Der Rektor der Ruprechtskirche P. Alois Riedlsperger und die evangelische Pfarrerin Katharina Payk, die dem Gottesdienst vorstanden, konnten dazu zahlreiche Christinnen und Christen der verschiedensten Kirchen begrüßen. Mit dabei war auch der Präsident des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Prof. Martin Jäggle. Im Anschluss an den Gottesdienst zogen die Teilnehmenden wieder in einem Schweigemarsch zum Mahnmal am Judenplatz.

Im Glauben Israels verwurzelt

Guanzini erinnerte zugleich daran, "dass der Glaube Jesu im Glauben Israels verwurzelt ist, und dass die Kirche ohne diese Wurzel ihre eigene Wahrheit verliert". Die Schriftlesung des Gottesdienstes war der Psalm 22, den auch Jesus sterbend am Kreuz rezitierte. Der klagende Schrei Jesu am Kreuz "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" bezeuge wie ein Siegel seine jüdische Identität, ebenso wie seine unverbrüchliche und unvergessliche Verwurzelung im Volk Israel.

Doch gerade das, was nicht vergessen werden durfte - "das Judesein Jesu, seine und unsere Treue und Zugehörigkeit zu einer Bundesgemeinschaft, die Israel mit Gott hat" - wurde im Lauf von siebzehnhundert Jahren kirchlicher Lehre verschwiegen. Mit schlimmen Folgen. Diese Vergessenheit und dieses Zurücklassen haben sich im Lauf der Jahrhunderte in eine Ablehnung und zunehmende Ausgrenzung des Judentums verwandelt - bis hin zu einem aggressiven Antijudaismus, der die christlichen Theologien und Gemeinden prägte und seine unheimlichen Schatten bis heute wirft.

Guanzini: "Der Novemberpogrome zu gedenken, bedeutet heute, den Schrei Jesu als den Schrei eines Juden wahrzunehmen und diesen Schrei in den theologischen Diskurs systematisch einzuschreiben." Dieser Schrei sei nicht nur der Schrei Jesu, sondern auch der Schrei der Leidenden, der Erniedrigten, der Opfer der Geschichte. “Er kann - oder er sollte - noch immer auf den Straßen hörbar werden.”

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 habe sich in Wien wie in vielen deutschen Städten und Dörfern der lange aufgestaute Antisemitismus entladen. "Diskriminierung verwandelte sich in die Auslöschung der Existenz von Menschen aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit." So habe der Albtraum der nationalsozialistischen Judenvernichtung begonnen, "eine Vernichtung, die kaum auf Widerstand stieß, ja, von vielen Teilen der Bevölkerung stillschweigend geduldet oder sogar begrüßt wurde".

Christliche Mitverantwortung

Auch Christinnen und Christen müssen sich ihrer Mitverantwortung stellen, so Guanzini: “Über Jahrhunderte hinweg hat ein, auch in der Kirche verwurzelter, Antijudaismus - genährt durch Lehre, Liturgie und Schweigen - dazu beigetragen, ein geistiges Klima zu schaffen, in dem Ausgrenzung und Verfolgung möglich wurden.”

Erst das Zweite Vatikanische Konzil habe eine Wende eingeleitet, indem es den monotheistischen Glauben an den Gott Israels in das Zentrum rückte und die jüdische Herkunft der Kirche neu betonte. Seitdem habe die Kirche einen "Weg der Umkehr" eingeschlagen - einen "Weg der Verpflichtung zu einer tieferen Verbundenheit mit ihren Ursprüngen und zu einer radikalen Wachsamkeit gegenüber jeder Form von Rassismus und Antisemitismus".

Die Kirche habe mit dem Konzil begonnen, ihre Fehler anzuerkennen und ein neues Bewusstsein für ihre Geschichte und ihre jüdischen Wurzeln zu entwickeln. Guanzini: "Das Engagement der Kirchen für die Dekonstruktion der mythologischen antijüdischen Maschinerie ist daher eine entscheidende Aufgabe, auch und gerade im Hinblick auf den biblischen Glauben selbst." Doch dieser Weg bleibe ein fortwährender, unvollendeter Prozess, "ein Weg, der immer wieder neue Ernsthaftigkeit, Achtsamkeit und die Bereitschaft zur Umkehr verlangt". Gerade in diesen Tagen, da der Krieg im Nahen Osten alte Wunden wieder aufreißt und der Antisemitismus in Europa erneut erschreckend sichtbar wird, sei dieser Prozess dringlicher denn je, mahnte die Theologin.

Gräuel der Novemberpogrome

Heuer jähren sich die Gräuel der Novemberpogrome 1938 zum 87. Mal. In der Nacht vom 9. auf 10. November 1938 wurden im gesamten deutschen Machtbereich Synagogen in Brand gesteckt, jüdische Geschäfte sowie Wohnungen zerstört und verwüstet. Zahlreiche Juden wurden bei den Pogromen getötet oder verletzt. Allein in Wien wurden im Zuge des Furors insgesamt 42 Synagogen und Bethäuser zerstört. 6.547 Wiener Juden kamen in Haft, knapp unter 4.000 davon wurden in das Konzentrationslager Dachau verschleppt.

"Mechaye Hametim" ist eine gemeinsame Veranstaltungsreihe der Gemeinde St. Ruprecht, Albert-Schweitzer-Haus-Forum für Zivilgesellschaft, Evangelische Hochschulgemeinde Wien, "Die Furche", Forum Zeit und Glaube - Katholischer Akademiker/innenverband der Erzdiözese Wien, Katholische Aktion Österreich, Katholische Hochschuljugend Wien, Koordinierungsausschuss für christlich-jüdische Zusammenarbeit und Theologische Kurse.

Infos zu "Mechaye Hametim"-Veranstaltungen gibt es im Internet unter https://christenundjuden.org.

Quelle: Kathpress

10.11.2025/RK