Dies Academicus: Mehrdeutigkeit als Herausforderung und Chance.

In seiner Begrüßung machte Rektor Michael Fuchs darauf aufmerksam, dass bereits das Wort „Ambiguität“ Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit beinhalte. Auch das Leben selbst entziehe sich, so eine Grunderfahrung der Moderne, der Vereindeutigung.
Wie unterschiedliche geisteswissenschaftliche Disziplinen dies auf theoretischer Ebene bedenken und auf konkrete historische und gegenwärtige Realitäten beziehen, war die Ausgangsfrage des Vorbereitungsteams bestehend aus Anna Bachofner-Mayr, Kerstin Borchhardt, Susanne Gillmayer-Bucher, Isabella Guanzini, Helena Stockinger und Bernd Ziegler. Gewonnen werden konnten drei renommierte Stimmen aus Philosophie, Theologie und Kunstwissenschaft sowie drei Vertreter:innen aus den Praxisfeldern Schule, Pastoral und Kulturvermittlung. Sie gingen der in der Hinführung zum Thema von Kerstin Borchhardt aufgeworfenen Frage nach, welche produktiven Begegnungs- und Kritikmöglichkeiten Ambiguität bereithalte.
Aus theologischer Perspektive verwies Klaus von Stosch (Universität Bonn) in seinem Vortrag „Identität durch Ambiguität? Koranische und katholische Konzepte im Gespräch“ auf die Gegenwart als eine Zeit der Polarisierung und auf einen damit einhergehenden Drang zu Eindeutigkeit und moralischem Maximalismus. Vor diesem Hintergrund stellte er die Frage, inwiefern koranische wie katholische Identitätsbildung sich nicht im Ausschluss von Mehrdeutigkeit vollziehe, sondern eben gerade durch Ambiguität – verstanden auch als Mehrwertigkeit. Katholizität im ursprünglichen Sinne einer All-Umfassendheit könne hier als alle sozialen „Bubbles“ transzendierendes Entgrenzungsprinzip und als Inklusionsbewegung verstanden werden. Der Koran wiederum biete, wie Stosch anhand einer eingehenden Analyse und historischen Einbettung koranischer Suren erläuterte, jüdischen wie christlichen Gruppen verständliche und „einladende“ Lesarten und reflektiere darin auch selbst die Sinnhaftigkeiten gemeinsamer religiöser Praktiken. Religiöse Identität werde so performativ eingeholt durch das Mitvollziehen von Ritualen, die ihr Leben und ihre Wirkkraft aus unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten bezögen.
Verena Krieger (Friedrich-Schiller-Universität Jena) widmete sich aus kunstwissenschaftlicher Perspektive möglichen Bedeutungen von Kunst im Zusammenhang mit „Ambiguitätsfähigkeit“. Unter dem Titel „Steigert Kunst die Ambiguitätskompetenz? Potenziale und Grenzen ästhetischer Ambiguität“ beleuchtete sie den nicht selten erhobenen – aber nie empirisch belegten, vielleicht auch empirisch gar nicht belegbaren – Anspruch, dass Kunst entscheidend zur Entwicklung von Ambiguitätskompetenz beitrage. Dem liege nicht zuletzt auch die gemeinhin angenommene Relevanz von „Graustufen als Schmiermittel sozialer Prozesse“ zugrunde. Zunächst gelte es aber zu fragen, wie ästhetische Ambiguität überhaupt funktioniere. Dem ging Krieger anhand von Picassos Guernica (1937) und von Aktionen des „Zentrums für politische Schönheit“ aus dem Jahr 2015 nach: Offenbar wecke Ambiguität Interesse und werde geradezu als eines der Qualitätsmerkmale von Kunst rezipiert – und ebenso offensichtlich gebe es in der zeitgenössischen Kunst eine Neigung zu uneindeutigen Gegenständen. Allerdings könne man, betonte Krieger, nicht von einer „feldunabhängigen Ambiguitätskompetenz“ sprechen; es gelte vielmehr, die Strukturen und Funktionsweisen von Ambiguität jeweils konkret zu untersuchen, wobei Parameter wie Emotionen und Wirklichkeitsbezug zu berücksichtigen seien.
Philosophisch näherte sich schließlich Annette Langner-Pitschmann (Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main) den Grenzen von Ambiguität, sei Verstehen doch wesentlich auf Momente der Eindeutigkeit angewiesen. Unter der Überschrift „Bedeutungsfreiheit. Kritische Überlegungen zu einem demokratischen Wert“ referierte sie zunächst machttheoretische Perspektiven auf Ambiguität: Zu warnen sei vor der impliziten Intoleranz eindeutiger, starrer und ausschließlicher Begriffsbestimmungen und den darin liegenden, oft unsichtbaren oder subtilen Mechanismen der Unterdrückung – die bis zur Verneinung, ja selbst zur Vernichtung des nicht klar Definierbaren oder sich der Definition Entziehenden gehen können. Dem stellte sie einen handlungstheoretischen Zugang gegenüber: Eindeutigkeit, bezogen auf den Modus der Handlung, richte sich nicht gegen Phänomene des Uneindeutigen oder wolle diese „aus der Welt schaffen“, sondern stehe im Dienst intersubjektiver Kommunikationsfähigkeit und erlaube ein „praktisches Erwartungsmanagement“. Eindeutigkeit, so resümierte Langner-Pitschmann, sei nicht per se problematisch, wesentlich sei allerdings die Aufrechterhaltung der Dialektik mit ihrem dynamischen Potenzial bzw. ein stetes und ausdauerndes Wandern zwischen Ein- und Mehrdeutigkeit.
Welche praktischen Impulse sich aus den Vorträgen gewinnen lassen, wurde im abschließenden Teil des Dies Academicus bei einer Podiumsdiskussion erörtert. Moderiert von Bernd Ziegler (KU Linz) schilderten Stefanie Hinterleitner, Pastoralassistentin und Seelsorgerin in der Dompfarre Linz, Florian Bachofner-Mayr, Direktor und Lehrer am Gymnasium Werndlpark (Steyr), sowie Andreas Praher, Historiker und Kulturvermittler im Museum Arbeitswelt (Steyr), Erfahrungen, Kontexte und Strategien aus der Praxis, in denen Ambiguität eine Rolle spielt. Dabei zeigte sich, dass Ambiguität für Akteur:innen in Verantwortungspositionen nicht zuletzt bedeutet, sich selbst als Mitlernende und Fragende zu begreifen. Hierin wurde eine Haltung sichtbar, die es ermöglicht, das angesprochene Hin- und Herwandern zwischen Ein- und Mehrdeutigkeit praktisch zu (er)leben und so in den Bereichen Bildung, Vermittlung und Seelsorge Resonanzräume für die Potenziale von Ambiguität zu etablieren.
25.11.2025/ABM/RK/HE




