130 Jahre Katholische Soziallehre: Trägt die Solidarität noch?

Bei der Online-Veranstaltung "Solidarität trägt!? Katholisch-soziale Ideen im Härtetest" am 30. April 2021 stand die Katholische Soziallehre im Fokus, die seit 130 Jahren den politischen und gesellschaftlichen Diskurs in Sozialfragen mitbestimmt. Nachdem Markus Schlagnitweit, interimistischer Direktor der Katholischen Sozialakademie Österreichs (ksoe), und Katja Winkler, Assistenzprofessorin am Institut für Christliche Sozialwissenschaften Johannes Schasching SJ der KU Linz, mit Fachvorträgen in das Thema eingeführt hatten, diskutierten Bischof Manfred Scheuer, WKOÖ-Vizepräsident Leo Jindrak und AK OÖ-Präsident Johann Kalliauer.

Fast genau 130 Jahre nach der Verkündung der ersten Sozialenzyklika "Rerum novarum" durch Papst Leo XIII. standen Rückblick und Ausblick auf die Katholische Soziallehre im Zentrum einer Kooperationsveranstaltung des Sozialreferats und des Bereichs mensch&arbeit der Diözese Linz sowie der Katholischen Aktion Oberösterreich und der Katholischen Privat-Universität Linz. Unterstützt wurde die Veranstaltung von der Österreichischen Gesellschaft für Politische Bildung und dem Forum Erwachsenenbildung Oberösterreich. Lucia Göbesberger, Leiterin des Sozialreferats der Diözese Linz, begrüßte zusammen mit Heinz Mittermayr, Abteilungsleiter der KAB, die Teilnehmenden.

In einem Impulsreferat skizzierte Markus Schlagnitweit, derzeitiger Direktor der Katholischen Sozialakademie Österreich, Entwicklungslinien der Katholischen Soziallehre. Er erinnerte dabei an die berühmten Sozialprinzipien wie Solidarität und Subsidiarität und deutete die Weite des Themenspektrums der Soziallehre an. Seien die frühen Sozialenzykliken noch von einem Naturrechtsdenken bestimmt gewesen, habe man in den späteren Enzykliken eher einen Ausgangspunkt in der Offenbarung gesucht, also eher im Sinne einer theologischen bzw. religiösen Ethik argumentiert.

Im zweiten Impulsreferat betonte Katja Winkler, Assistenzprofessorin am Institut für Christliche Sozialwissenschaften der KU Linz, die Aktualisierbarkeit, die Veränderbarkeit und die Konkretisierbarkeit der Katholischen Soziallehre. Kritisch beurteilte Winkler die Liberalismuskritik von Papst Franziskus in "Fratelli tutti", die keine Differenzierung mehr zwischen einem Wirtschaftsliberalismus bzw. Neoliberalismus auf der einen Seite und einem politischen Liberalismus, der die Menschenrechte absichere, auf der anderen Seite, die sich die Kirche mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil hart erarbeitet habe, biete. Hinsichtlich der Solidarität verwies Winkler auf die berühmte Formel von Oswald von Nell-Breuning SJ "Gemeinverstrickung – Gemeinhaftung". Solidarität habe immer zwei Dimensionen, zum einen eine Dimension der Rechtspflichten, die auf sozialstaatliche Strukturen und soziale Anspruchsrechte ziele, zum anderen eine Dimension der sozialen Liebe, die auf freiwillig geleistete karitative Zuwendung ziele.

Im zweiten Teil der Veranstaltung diskutierten Diözesanbischof Manfred Scheuer, AK-Präsident Wolfgang Kalliauer und WKO-Vizepräsident Leo Jindrak unter der Diskussionsleitung von Michaela Pröstler-Zopf, Bereichsleiterin mensch&arbeit der Diözese Linz, und Daniel Neuböck, Leiter des Bereichs Kinder und Jugend der Diözese. Diskutiert wurde etwa das Verständnis von Solidarität. Auch Scheuer zitierte die Formel "Gemeinverstrickung – Gemeinhaftung". Kalliauer verwies darauf, dass Solidarität vor allem eine Gesellschaft erfordere, in der niemand zurückgelassen werde. Nachdem Katja Winkler auf den immer am Tag vor dem 1. Mai stattfindenden "Tag der Arbeitslosen" als Beispiel (u.a.) kirchlicher Solidarität hingewiesen hatte, wurden auch die Podiumsgäste von Michaela Pröstler-Zopf danach gefragt. Leo Jindrak äußerte seine Zuversicht, dass jeder Arbeitsuchende eine Arbeit bekomme. Bischof Manfred Scheuer mahnte vor allem Zuversicht an, während Wolfgang Kalliauer die Prekarität der Erwerbsarbeit während der Corona-Krise hervorhob. In diesem Zusammenhang kritisierte Kalliauer auch Jindraks Optimismus, dass jeder eine Arbeit bekomme, als illusionär. Auf eine offene Stelle, so Kalliauer, kämen acht Arbeitsuchende. Eine Lösung könne nur in einer Umverteilung der Arbeit liegen. Die Sozialpartnerschaft schließlich lobten alle Podiumsgäste – wenn auch mit unterschiedlicher Akzentuierung – als wichtigen Baustein des Österreichischen Wirtschafts- und Sozialgefüges. Kalliauer erinnerte aber auch an den früheren WKO-Präsidenten Trauner, der gesagt habe, dass mindestens einer der Sozialpartner überflüssig sei, wenn beide einer Meinung seien. Der Sinn der Sozialpartnerschaft sei die Überwindung durchaus kontroverser Standpunkte, wobei man sich wiederum auf grundlegende Gemeinsamkeiten besinnen könne. Dabei sei auch die katholische Soziallehre eine wichtige Orientierung, auch wenn man, so Wolfgang Kalliauer im Anschluss an Katja Winkler im ersten Teil der Veranstaltung, dabei nicht ständig und inflationär ausdrücklich auf katholische Sozialprinzipien verweisen müsse.

Die Veranstaltung machte deutlich, dass die Katholische Soziallehre durchaus Potential für Aktualisierung und Konkretisierung aufweist. Vieles ist zeitbedingt, manches antiquiert. Anderes wirkt sehr aktuell und auch heute noch relevant, wie es beispielsweise die Debatte um den Solidaritätsbegriff auf dieser Veranstaltung gezeigt hat. Vor dem Hintergrund der Impulse von Schlagnitweit und Winkler sowie angesichts der Podiumsdiskussion müsste man einerseits sagen: Solidarität trägt noch. Andererseits muss man doch auch zur Kenntnis nehmen, dass Solidarität etwa in der neuen Enzyklika "Fratelli tutti" praktisch keine Rolle mehr spielt. Bei Sozialpartnern und Sozialethiker*innen scheint der Begriff der Solidarität mehr Interesse hervorzurufen als beim Papst. Insofern dürfte die schwindende Bedeutung der Katholischen Soziallehre nicht nur ein Problem säkularisierter Gesellschaften sein, sondern auch ein Problem der kirchlichen Sozialverkündigung selbst.

Den Bericht "Solidarität und Dialog als Schlüsselfaktoren in Umbruchzeiten" finden Sie hier.

Text: Christian Spieß. Fotos: Hermine Eder

3.5.2021/kd