Habilitationsprojekt Kreutzer: Kenopraxis. Eine handlungstheoretische Theologie der Selbstentäußerung (abgeschl. 2010)
Die Religion kehrt als gesellschaftlich ernstzunehmender Faktor in die Moderne zurück. Dabei scheint ein Motiv der Religion die Zeitgenossen sowohl zu faszinieren als auch abzuschrecken: die „Selbstlosigkeit", die ein wichtiger ethischer und spiritueller Inhalt in der Selbstdeutung Gläubiger ist. Diese Selbstlosigkeit lässt sich zum Beispiel als hervorragendes motivationales Potential aufgreifen, um Solidaritätslücken, die eine ungebremste wirtschaftliche Globalisierung in die nationalen Gesellschaften reißt, zu kompensieren. Wo der soziale Zusammenhalt schwächer wird und die zunehmende Individualisierung egoistische Handlungsorientierungen hervorbringt, kann eine religiös gerechtfertigte altruistische Haltung ein wichtiges Korrektiv bilden. Aber eine radikalisierte Selbstlosigkeit der Religiösen erschreckt zugleich die modernen Zeitgenossen, führt sie doch ebenso das destruktive Potenzial vor Augen, das Religionen entfalten können: Auf individuell-privater Ebene wirkt eine übertriebene Askese pathologisch und selbstzerstörerisch. Auf gesellschaftlicher Ebene zeigt die Extremform fundamentalistischer Selbstmordattentäter, wohin eine verblendete, aber religiös gerechtfertigte Selbstlosigkeit führen kann. Angesichts der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Aspekt der Wiederkehr der Religion scheint eine fundierte und breite theologische Auseinandersetzung mit „Selbstlosigkeit" in der christlichen Religion geboten.
In der dogmatisch-fundamentaltheologischen Perspektive hat das Motiv der „Selbstlosigkeit" in der Tradition der „Kenosis"-Theologie eine ganz besondere Vertiefung erfahren. Ihre Urstelle findet sich im berühmten Christus-Hymnus des Philipper-Briefes: „Er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich." (Phil 2,7) Methodologisch höchst aufschlussreich ist, dass bereits im biblischen Kontext die Kenosis-Idee eine synthetische Funktion für verschiedene Bereiche des Glaubens hat: Die „Selbstentäußerung" ist zunächst ein christologisches Interpretament, um Leben und Sterben Jesu zu deuten. Es macht zugleich eine Aussage über das Gottesverständnis des Christentums. Darüber hinaus geht es im Kontext des paulinischen Briefes um ethische Anweisungen an die Philipper sowie um das Selbstverständnis der urchristlichen Gemeinde. Eine facettentreiche Theologie der Kenosis kann methodologisch auch für die Systematische Theologie richtungsweisend sein. Sowie schon im Philipperbrief das christologische Bekenntnis im Kontext ethischer Fragen steht, kann systematische Theologie auch heute besonders dann Plausibilität für den christlichen Glauben erzeugen, wenn ihre Inhalte anschlussfähig sind an Handlungsformen, Sinnentwürfe und Erfahrungsräume der Menschen. In diesem Sinne scheint eine kritische Korrelation von christologischer Kenosis und modernem Solidaritätsethos gewinnbringend. Das Kenosismotiv kann als Beitrag des Christentums zu einer Kultur der Solidarität betrachtet werden, und umgekehrt kann die Anknüpfung eines christologischen Zentralmotivs an den modernen Ethikdiskurs zur Plausibilisierung christlichen Glaubens- und Lebenswissen beitragen.
Das Habilitationsprojekt wurde im Oktober 2010 mit dem erfolgreich absolvierten Habilitationsverfahren abgeschlossen.