Kurzbeschreibung des Projekts: "Textuelle Identifikationspotenziale in den Psalmen der Hebräischen Bibel"
Eine faszinierende Unmittelbarkeit kennzeichnet die Psalmen der Hebräischen Bibel. Die Psalmen als Lieder und Gebete aus einer lange vergangenen Zeit sind altorientalische Texte, die über die Jahrhunderte hinweg bis heute unmittelbar anrühren. Dieser Wesenszug der Vergegenwärtigung wird durch alle Epochen der Psalmenauslegung konstatiert, ist jedoch bisher weder methodisch operationalisiert noch systematisch analysiert worden. Das Habilitationsprojekt nimmt dieses Forschungsdesiderat in der aktuellen Psalmenexegese zum Ausgangspunkt.
Unmittelbarkeit wird dadurch ausgelöst, dass sich Lesenden mit den in den Psalmen erzählten Situationen, Themen, Bewegungen, Emotionen und Erfahrungen identifizieren können. Daher stellt sich das Projekt den neu entwickelten Forschungsfragen, welche Aspekte von Identifikation in den Psalmen zu finden sind und wie diese funktionieren. Ziel des Forschungsprojektes ist demnach, Textstrategien zu eruieren, die LeserInnenidentifikation ermöglichen.
Identifikation mit Texten ist ein sehr komplexer Lesevorgang, der auf drei Faktoren beruht: (1) LeserIn, (2) Kontext und (3) Text. Für die Analyse text-basierter Identifikationspotentiale in den Psalmen wird – im Rahmen der Rezeptionsästhetik – eine innovative Methodologie entwickelt. Dieser folgt der Definition von „Identifikation“ mit literarischen Texten als die aktive Übernahme von im Text vorgezeichneten Perspektiven. Diese Perspektivenübernahme gelingt umso besser, je konkreter (nicht detaillierter) und „interessanter“ bzw. „aktueller“ die dargestellten Szenen und Inhalte sind und damit Analogiebildung zu gegenwärtigen Themen und Problemlagen ermöglicht werden, je mehr emotionale Wirkung ein Text ausübt und je leichter die Anbindung an die Bewegungen des Textes gelingt (Perspektivenlenkung, Textdynamik). Daher erfolgt die textanalytische Arbeit entlang der Analysekategorien (1) Inhalt, (2) Emotionen (explizite und implizite Emotionen; emotionale Beteiligung und emotionale Resonanz auf Seiten der LeserInnen) sowie (3) Perspektivenlenkung und Textdynamik und den damit verbundenen Methodenschritten.
Aufgrund der wohl durchdachten Auswahl der Psalmen 30, 64, 90 und 147 anhand des Kriteriums der Perspektivenlenkung und nach der Textanalyse sind relevante Ergebnisse sowohl aus theologisch-bibelwissenschaftlicher als auch aus interdisziplinärer Perspektive zu erwarten:
eine neue methodologische Vorgangsweise, die anhand von Erzähltexten erarbeitete Methoden für die Analyse poetischer Texte fruchtbar macht, um neue Dimensionen in der Lyrikanalyse aufzuzeigen; ein weiterer Beitrag zur etablierten Metaphernforschung innerhalb der alttestamentlichen Exegese, da Metaphern innerhalb der Bildersprache der Psalmen weite Identifikationspotentiale eröffnen; ein Beitrag zur biblischen und literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung, da Identifikation durch implizit und explizit dargestellte Gefühle in Texten gefördert wird und schlussendlich ein tieferes Verständnis der Psalmen und der Unmittelbarkeit, die diesen inhärent ist.
Dieses vom Österreichischen Forschungsfonds (FWF) finanzierte Projekt unter der Projektnummer V276-G15 läuft im Rahmen des Elise-Richter-Programms vom 1.3.2013 bis 31.5.2016