Hauptsache dabei (2007-2013)

Mechanismen sozialen Ein- und Ausschlusses in theologischer Sicht

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Aktueller Bezug

Neue Wortbildungen zeigen neue Phänomene, zumindest die Neuheit von deren Wahrnehmung an. Der Neologismus „Prekariat“, offenbar eine Verbindung aus „Proletariat“ und „prekär“, belegt die gestiegene politische und wissenschaftliche Sensibilität für die Zunahme sozialer Unsicherheit. Die Reaktionsformen auf die Prekarisierung von Arbeits- und Lebensformen sind dabei unterschiedlich. Während in Frankreich die „Génération précaire“ angesichts unsicherer Arbeitsverhältnisse protestiert, ja Jugendliche sich aufgrund frustrierender Jugendarbeitslosigkeit zu wütenden Protesten in den Pariser Vorstädten erheben, scheint sich eine große Mehrheit der in der Shell-Studie befragten Jugendlichen in Deutschland, die sogenannte „Generation Praktikum“, in ihr Schicksal zu fügen. Sie versuchen die unsichere Situation auf dem Arbeitsmarkt mit individuellen Überlebensstrategien zu bewältigen. In einer Umfrage unter österreichischen Jugendlichen anlässlich der Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre wiederum konnten die Meinungsforscher eine erhebliche Politikverdrossenheit und geringes politisches Interesse feststellen, die auch auf mangelnde Möglichkeiten politischer Gestaltung zurückzuführen sind. Das Besondere an der Wahrnehmung der zunehmenden Prekarisierung von Arbeit und Leben liegt darin, dass sich nicht nur einige Risikogruppen von sozialem Ausschluss bedroht fühlen, sondern das Gefühl sozialer Unsicherheit in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist: „So sahen fast zwei Drittel der 3000 vom Meinungsforschungsinstitut Infratest im Auftrag der Ebert-Stiftung Befragten, dass ihnen die gesellschaftlichen Veränderungen Angst machen. 46 Prozent empfinden ihr Leben als ‚ständigen Kampf’, fast ebenso viele (44 Prozent) fühlen sich vom Staat allein gelassen.“ Die Frage nach sozialem Ein- und Ausschluss, in den skizzierten sozioökonomischen Formen, aber auch in ethnischer, religiöser oder kultureller Hinsicht steht derzeit ganz oben auf der Tagesordnung gesellschaftlicher Debatten.

Forschungsstand

Die sozialwissenschaftliche Reflexion folgt den referierten medialen und politischen Selbstwahrnehmungen der Gesellschaft. Der großangelegte Kongress der deutschen Gesellschaft für Soziologie im Jahre 2004 etwa war der Thematik der sozialen Integration gewidmet. Die deutschsprachige Soziologie greift damit mehr und mehr ein Thema auf, das die französische Sozialwissenschaft schon länger verfolgt. Idealtypisch lassen sich zwei Formen von theoretischer Auseinandersetzung mit den Fragen sozialer Inklusion und Exklusion unterscheiden: Eine normative Gesellschaftswissenschaft, die vom Ideal einer integrierten und mit sozialen Standards ausgestatteten Gesellschaft geleitet ist, kritisiert von hier aus Exklusionsprozesse als Gefährdung von Demokratie und sozialem Frieden (M. Kronauer). Eine mit systemtheoretischem Instrumentarium arbeitende, sich als normativ enthaltsam verstehende Soziologie weist demgegenüber auf die notwendige Dialektik von Inklusion und Exklusion hin, die auf dem unhintergehbaren Mechanismus der Grenzziehung sozialer Systeme beruhe (A. Nassehi). In der Theologie, insbesondere in ihren sozialethischen Disziplinen wird die Thematik sozialer Integration und Desintegration zwar immer wieder behandelt (etwa unter arbeitsethischem Gesichtspunkt), eine breite Rezeption der theoretisch und grundsätzlich ansetzenden Exklusionsdebatte oder gar ihre Bereicherung stehen freilich noch aus. Da sich zum Themenfeld des Ein- und Ausschlusses jedoch zahlreiche theologische Anknüpfungspunkte anbieten (s.u. III.3), dürfen theologische Diskussionsbeiträge zur Thematik als Desiderat angesehen werden.

Symposien

(1) Wegsperren oder einschließen?
Die Praxis der Freiheitsstrafe zwischen Inklusion und Exklusion
22. bis 23. Oktober 2009, KTU Linz

WissenschaftlerInnen und PraktikerInnen diskutierten bei der internationalen und interdisziplinären Tagung an der KTU Linz.

„Schwerstkriminelle gehören für immer weggesperrt!" Diese Aussage kann man immer wieder und, wie es scheint, immer öfter hören. Eine derartige Forderung sieht den Sinn der Freiheitsstrafe offenkundig im gesellschaftlichen Ausschluss von Menschen. Allerdings steht dieser Position seit den 1970er Jahren eine Straftheorie und -praxis entgegen, die das Ziel in der Resozialisierung und der Integration der TäterInnen sehen: Menschen werden durch die Freiheitsstrafe aus der Gesellschaft „ausgeschlossen", um ihnen schrittweise die soziale Integration zu ermöglichen.
Am 22. und 23. Oktober 2009 fand ein Symposium an der Katholisch-Theologischen Privatuniversität Linz statt, bei dem diskutiert wurde, inwiefern die Gefängnispraxis durch das Wegsperren das „Einschließen" der StraftäterInnen in die Gesellschaft, die Resozialisierung, unterstützen kann und muss.
Diese Frage ist für unsere Gesellschaft von enormer Bedeutung. Die Humanität einer Gesellschaft zeigt sich nämlich nicht zuletzt darin, wie mit jenen Menschen umgegangen wird, die anderen Schaden zugefügt haben oder sogar außerordentliche Brutalität an den Tag gelegt haben. Wenn wir danach fragen, warum wir StraftäterInnen einsperren, ist zu beachten: Motive der Rache sind inhuman, und die Erwartung, dass Gefängnisstrafen abschrecken, erfüllt sich nicht.

Resozialisierung der Gefangenen und der Gesellschaft
Privatdozent Dr. Jean-Christophe Merle, Philosoph an der Universität Tübingen, rief ins Bewusstsein, dass kein Mensch völlig sicher sein kann, niemals straffällig zu werden. Dieses Risiko teilen alle Mitglieder einer Gesellschaft. Daher müsse auch die Gesellschaft insgesamt die Resozialisierung ermöglichen: Die Gefängnispraxis müsse auf Resozialisierung der Gefangenen ausgerichtet sein. Merle plädierte dafür, dass eine Freiheitsstrafe grundsätzlich solange dauern solle, bis die Resozialisierung gelungen sei. Dann müssten aber auch Therapien und Begleitungsmaßnahmen hinreichend bereitgestellt werden.
Prof. Dr. Christoph Niemand, Neutestamentler an der KTU Linz, stellte dar, dass in der Mitte der Botschaft Jesu das Hereinholen der Ausgeschlossenen und ihre Ermächtigung zur Freiheit der Gotteskindschaft stehe. Gerade auch im Umgang mit Gefangenen gilt es, das Beispiel Jesu ernst zu nehmen und angesichts deren sozialer Marginalisierung Würde zuzusagen und ihnen eine andere Existenz zuzutrauen.
Prof.in Dr.in Mechthild Bereswill, Soziologin an der Universität Kassel, stellte eine empirische Jugendarrest-Studie vor. Junge Männer wurden über einen längeren Zeitraum in und nach der Haft befragt, und ihre Selbstdeutung wurde erhoben. Dabei zeige sich, dass die Krisen und Konflikte, die generell zum Erwachsenwerden gehören, sich im Gefängnis zuspitzen. Daher müsse Resozialisierung als komplexer psycho-sozialer Prozess betrachtet und begleitet werden.
Prof.in Dr.in Ilse Kryspin-Exner, Psychologin an der Universität Wien, wies auf Risikofaktoren für das Straffällig-Werden hin: Verhaltensauffälligkeiten, Mangel an sozialer Kompetenz, Missbrauchserfahrungen etc.. In jedem Fall sei es entscheidend, die Ursachen für Delinquenz und für deren Vermeidung spezifisch im Hinblick auf das Individuum zu betrachten. Haft allein wirke kaum präventiv auf das Handeln der Einzelnen hin; vielmehr müssten Therapiemöglichkeiten in größerem Umfang mit Behandlungszielen, die auf das Individuum abgestimmt seien, ermöglicht werden. Von elementarer Bedeutung seien dabei die unterstützenden Beziehungen, also Personen aus dem Umfeld der Betroffenen.
Prof. Dr. Michael Rosenberger, Moraltheologe an der KTU Linz, arbeitete anhand theologischer Überlegungen den Sinn des Strafens für die TäterInnen und für die Gesellschaft heraus. Strafe reagiere demnach auf Normenverstoß, der Sinn der Strafe sei letztlich die Wiederherstellung der durch die Tat verletzten sozialen Ordnung. Das Strafen sei nicht zuletzt als symbolisches Handeln zu verstehen; zumindest dort, wo die Strafe von Verurteilten angenommen werde, sei Strafe als Symbol für die Verletzung der sozialen Ordnung und die Notwendigkeit deren Heilung verstanden. Die Benennung und Auseinandersetzung mit Schuld sei wichtig für die StraftäterInnen, aber auch für die Opfer; Prozesse der Resozialisierung bzw. Reintegration seien zudem für die Gesellschaft unverzichtbar.
Dass Resozialisierung eng mit Versöhnung zusammenhängt, zeigt sich immer wieder im Rahmen des Außergerichtlichen Tatsausgleiches. Hier wird von den Opfern als wichtigste Motivation der Wunsch genannt, dass der Täter bzw. die Täterin ihnen in die Augen schaut und eine aufrichtige Entschuldigung ausspricht.

Das Symposium war eine Veranstaltung im Rahmen des Forschungsschwerpunktes „Hauptsache dabei" der AG WiEGe an der KTU, der sich mit den Mechanismen sozialen Ein- und Ausschlusses in theologischer Perspektive beschäftigt. Die Praxis der Freiheitsstrafe ist ein Beispiel, anhand dessen zu analysieren ist, was auch in anderen Zusammenhängen in unserer Gesellschaft abläuft:
Wir haben das Bedürfnis, dabei zu sein, also uns an sozialen Prozessen und politischen Entscheidungen beteiligen zu können. „Hauptsache dabei!" markiert in dieser Hinsicht die Notwendigkeit, in Gruppen integriert zu sein, damit wir uns als Individuen und als humane Gemeinschaften entwickeln können. Allerdings laufen auch ständig Prozesse ab, in denen wir uns von anderen absichtlich abgrenzen und so andere ausgrenzen. „Hauptsache ich bin dabei!" „Wir sind wir, und die da gehören nicht zu uns." Die Entwicklung persönlicher und gesellschaftlicher Identität setzt faktisch immer auch voraus, dass wir uns selbst abgrenzen.
Anhand des Gefängnisses lassen sich derartige Zusammenhänge analysieren. Dabei können wir einiges über unsere Einstellungen und unser Verhalten lernen. Beispielsweise bedeutet Haft einen Ausschluss der Betroffenen von zentralen gesellschaftlichen Prozessen; Haft geht aber auch mit einem Einschluss in das Sozialgefüge Gefängnis einher - mit seinen spezifischen Gruppenprozessen. Innerhalb der Justizanstalten finden wir Mechanismen vor, durch die Inhaftierte an Gruppen teilhaben oder von ihnen ausgeschlossen werden bzw. sich selbst ausschließen. Der faktische Umgang der Gesellschaft mit der Institution Gefängnis und den Inhaftierten wiederum spiegelt wider, wie es um das Ziel, Gefangene wieder in die gesamte Gesellschaft zu integrieren, tatsächlich bestellt ist.
Gerade die Äußerung, „Schwerstkriminelle gehören für immer weggesperrt!", provoziert den Verdacht, dass der dauernde gesellschaftliche Ausschluss von Personen für die Öffentlichkeit häufig kein grundsätzliches Problem darstellt. Eine Diskussion müsste daher für die Öffentlichkeit selbst elementar sein, um die sozialen Vorgänge zu verstehen und um gesellschaftliche Teilhabe-Möglichkeiten verantwortungsvoll zu gestalten. Schließlich haben alle Menschen die gleiche Würde - auch Gefangene und andere marginalisierte Personen.
Die Arbeitsgruppe WiEGe und die TeilnehmerInnen des Symposiums orten hier einen breiten Forschungsbedarf.
Folder Symposium

(2) Werke der Barmherzigkeit
Mittel zur Gewissensberuhigung oder Motor zur Strukturveränderung?
11. bis 12. April 2013, KTU Linz

„Was ihr für einen dieser Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25,40.45) In diesem Satz Jesu verdichtet sich die bereits zwei Jahrtausende leitende Auffassung, dass das Christentum die Hilfe zugunsten der am gesellschaftlichen Rand Stehenden, der Bedürftigen und Marginalisierten zu seinen leitenden Grundoptionen zählt: Die Verpflegung von Hungernden und Durstigen, die Aufnahme von Obdachlosen und Fremden, das Besuchen von Kranken und Gefangenen. Doch führte und führt dieser starke spirituelle Impuls der „Werke der Barmherzigkeit“ auch zu einer Veränderung gesellschaftlicher Unrechtsstrukturen? Motiviert er die Glaubenden, die Ursachen sozialer Ausgrenzung zu beseitigen? Oder leitet er ausschließlich dazu an, Symptome zu lindern? Ein kritischer inter- und transdisziplinärer Blick auf die Wirklichkeit hat diese Fragen erhellt.
Folder Symposium
Publikation mit den Beiträgen und Diskussionen des Symposiums: LiWiRei Bd. 5

Fokussierung

Titel
„Hauptsache dabei“ Die angezielten Anknüpfungspunkte der WiEGe-Gruppe an die politischen und wissenschaftlichen Diskurse um soziale Ein- und Ausschlussprozesse ergeben sich aus dem mehrsinnigen Titel des Arbeitsschwerpunktes: „Hauptsache dabei“ markiert eine grundlegend normative Perspektive, die sich einer beteiligungsethischen Ausrichtung verpflichtet weiß: Wer von politischen Entscheidungen und sozialen Prozessen betroffen ist, soll bei ihrer strukturellen Gestaltung beteiligt sein. Insofern wird soziale Inklusion nicht nur als sozialanalytische, sondern auch als eine normative Kategorie verstanden. „Hauptsache dabei“ wird jedoch ebenfalls als Zitat eines individuellen oder kollektiven Egoismus interpretiert, der lediglich auf eigene Beteiligung abzielt, anderen jedoch gleiche soziale Teilhabe verweigert („Hauptsache ich bin/wir sind dabei!“) und daher aus obigem beteiligungsethischem Ansatz heraus zu kritisieren ist. Zudem verweist die Frage „Hauptsache dabei?“ auf Kritikbedürftigkeit der Normativität von sozialer Inklusion und der Analyse von gewünschter Selbstexklusion. Diese Perspektive versteht Exklusion als notwendige Voraussetzung für individuelle und gesellschaftliche Identitätsbildung; das Interesse liegt bei den Bedingungen und Folgen sozialer Inklusion/Exklusion (Wie bin ich dabei? Will ich überhaupt dabei sein?). Unsere Sicht auf Prozesse sozialen Ein- und Ausschlusses verfolgt also sowohl analytische als auch normative Ziele – zwei Ebenen die in der Reflexionspraxis ohnehin kaum voneinander zu trennen sind.

Methodologischen Profil
Der Fokus unserer Auseinandersetzung mit Ex- und Inklusion soll nicht auf speziellen sozialen Problemfeldern (z.B. Arbeitslosigkeit, sexistische Diskriminierung, Migration und Ausländerfeindlichkeit) liegen, sondern primär die den Ein- und Ausschlussprozessen inhärenten Mechanismen in Blick nehmen. Aus Sicht des Materialobjektes formuliert liegt unser Schwerpunkt auf der theoretischen Analyse von Formen sozialer In- und Exklusion. Das Formalobjekt erblicken wir in erster Linie in der theologischen Perspektive, aus der heraus Inklusions- und Exklusionsprozesse beschrieben und normativ gewertet werden sollen. Dieser methodologische Fokus muss freilich bei der Initiierung konkreter Diskussionsforen (z.B. Symposien) weiter konkretisiert werden. Beispiele für mögliche Konkretionen sehen wir in folgenden Themenpräzisierungen:

Beispiele für theologische Bezugpunkte zur Inklusions-/Exklusionsthematik

Materialobjekte:

  • moderne Gesellschaft: Mechanismen der Inklusion/Exklusion in der modernen Gesellschaft
  • Religion: Solidaritätspotenzial der Religionsgemeinschaften und ihrer Ethoi in der modernen Gesellschaft 
  • Christentum: Optionalität für Opfer sozialer Exklusion im gruppenspezifischen Ethos der Christinnen und Christen („Brüderlichkeitsethik des Christentums“ [Max Weber], Armutsbewegung im Mittelalter, Theologie der Befreiung [„Option für die Armen“]) 
  • Orden: Ein- und Ausschlussmechanismen bei Ordensgemeinschaften - Gemeinden: Pastorale Gemeindemodelle (integrierte Gemeinde – offene Gemeinde) …

Formalobjekte:

  • Umcodierung: Umcodierung von Inklusions- und Exklusionsmechanismen in der Christentumsgeschichte (vgl. Theißen: Die Jesusbewegung) 
  • Heilsuniversalismus: Umfassende Inklusion als theologische und ekklesiologische Herausforderung 
  • Ökumene: Inklusions- und Exklusionsmotive im ökumenischen Diskurs