Workshop "Zufall und Einfall"

Medien der Kreativität in Kunst und Wissenschaft, 9.-11. November 2023

Ort
Katholische Privat-Universität Linz
Hörsaal 5 (3. Stock, Altbau)

Bethlehemstraße 20
4020 Linz
Österreich

Konzept und Organisation
Der Workshop wird von Aloisia Moser in Zusammenarbeit mit der Fakultät für Philosophie und für Kunstwissenschaft der KU Linz und unter Schirmherrschaft der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik organisiert und richtet sich in erster Linie an Nachwuchswissenschaftlerinnen.

Aloisia Moser, Ph.D. ist seit 2016 Assistenzprofessorin am Department für Geschichte der Philosophie am Institut für Philosophie und für Kunst an der Katholischen Privatuniversität Linz.

Anmeldungen bitte bis 5. November 2023 an Aloisia Moser, E-Mail: a.moser[at]ku-linz.at. 
Der Workshop kann kostenfrei besucht werden!

Donnerstag, 9.11.

Panel I Spielend zufallen…ahnend spielen

14:00 bis 15.30Hauptvortrag 1, Sybille Krämer: „Das Spielerische, das Kombinatorische und die Kreativität der ‚Kulturtechnik der Verflachung‘“

Sibylle Krämers Vortrag über „Verflachung als Kulturtechnik“ war ein Plädoyer für den methodischen Oberflächenbezug, in dem Sinne, dass wir nicht immer hinter den Dingen nach ihrem wahren Wesen suchen. Kreativität ist dann nicht die Erfindung des Neuen, und Krämer geht weit weg vom schöpferischen Subjekt, sondern liegt vielmehr in der Performativität, der Medialität und den Kulturtechniken, die Heterogenes miteinander verbinden. Besonders interessiert sie sich für die Kulturtechnik der Verflachung, die zweite Dimension, das Diagramm. Warum? Weil es sich dabei um eine Transfiguration handelt, die uns zu einer neuen Seinsweise, einer veränderten Haltung oder Einstellung im Umgang verhilft. Am Beispiel der Schriftbildlichkeit wurde dann noch einmal deutlicher, warum es bei der Transfiguration des Zeichens in das Datum zu einer neuen symbolischen Umgangs- und Produktionsweise kommt. Frau Heyl versuchte dann in ihrer Frage den Zufall doch noch in den Vortrag von Frau Krämer einzuschreiben, nämlich im Übergang von der dritten in die zweite Dimension bricht etwas in unsere Reduktion ein, es stößt uns etwas zu, das wir nicht fassen können.

15:45 bis 16:45: Sebastian Lederle: „Prekarität als Reflex und Reflexion von Kontingenz. Eine medienästhetische Perspektive auf die hergestellte Unabsehbarkeit von Erfahrung“

Anschließend referierte Sebastian Lederle über Prekarität als Reflex und Reflexion von Kontingenz. Hier spielte der Begriff der Unvorhersehbarkeit eine zentrale Rolle, also eine Unterbrechung in der Als-Struktur der Erfahrung, die wesentlich durch die Prozesse ihres eigenen medientechnischen Hergestellt-Seins gezeitigt wird. Das Interessante hierbei ist, dass die Prekarität durch das eigene Reflexiv-Werden mitbedingt wird, nämlich durch die infrastrukturellen Erschließungsleistungen. Hier hatten wir das Beispiel der Zugfahrt und der Verspätung, die uns die Erfahrung des Am-Ziel-Ankommens als Erfahrung durchquert. Herr Lederle schlägt vor, dass zum Beispiel die Kunst etwas kann, und dass das, was sie kann, genau das ist, was aus der ereignishaft-performativen Anerkennung einer ästhetischen Praxis und der Prekarität, die ihre Objekte durchquert, resultiert.

16:50 bis 17:50: Marie von Heyl: „Eupalinos oder das verworfene Objekt — Sublimierung als Kipppunkt zwischen Zufall und Einfall bei Paul Valéry und Gilles Deleuze“

Marie von Heyl knüpfte in ihrem Vortrag mit Sokrates’ Spaziergang am Meer an und dem Finden und Verwerfen des zweideutigsten Dinges an. Wir haben es mit einem Ding zu tun, von dem wir nicht wissen, ob es vom Menschen oder von der Natur gemacht ist, ein Ding, das jedenfalls nicht in Platons Welt, die von den Ideen abgeschattet ist, existieren kann. Heyl beschrieb das Ding an sich, das Objekt klein a das Abjekt oder das epistemische Ding als Quasi-Objekt zwischen Denken und Sein, Körper und Geist, Urbild und Abbild, Kunst und Wissenschaft. Darin verbirgt sich der Ort des Nichtsinns für den sich das Denken in Bewegung setzen muss. Ein solches, von außen angestoßenem Denken, wird zum Kipppunkt zwischen Zufall und Einfall.

17:55 bis 18:55: Emanuel Seitz, „Spürsinn. Wie Intuitionen ahnen“

Der letzte Vortrag des Tages von Emanuel Seitz befasste sich mit dem Spürsinn und wie Intuitionen ahnen. Worte und Klänge werden als Spuren des Denkens gesehen, als Materialisierung des Gedankens in Worten oder Bildern. Wir ringen um Worte und diese haben Atmosphären, die uns zu einer Ohrenweisheit verhelfen, die nur ein geschultes Ohr erlangen kann. Die Bildung des Ohres geschieht durch das Hören, die Ausbildung des Hörsinns als Spürsinn. Um der Heuristik der Spur näher zu kommen, muss dieser Spürsinn selbst befragt werden und seine Funktionsweise ist eher im Sinne der Abduktion als der Deduktion und Induktion zu verstehen. Es ist eine begriffsbildende Musterübung im Hören, wo uns hinweisende Reize auf die richtige Fährte bringen, die uns den richtigen Einfall beschert.

 

Freitag, 10.11.

Panel II Sorgfältig und zufällig experimentieren I: Mediales Aufblitzen und Einfangen

10:00 bis 11:00: Dennis Jelonnek: „Der ‚Skogsnuvismus‘ und die Folgen – zur Anwendung des Zufalls im Werk von August Strindberg“

Dennis Jelonnek zeigte uns am Morgen ein Bild, das paradigmatisch für Strindbergs „Waldfeeismus“ oder Skogsnuvismus steht. Strindberg hatte als Maler eine bestimmte Vorstellung davon, wie man aus scheinbarem Chaos Struktur „herauspräparieren“ kann. Damit wollte er in seiner malerischen Praxis die Wahrnehmung des Bildes, den Prozess des Sehens auf die Produktion übertragen. Das Bild ist dann kein Bild der Natur, sondern es „ist Natur“, denn die neue Kunst ahmt nicht die Natur nach, sondern die Art und Weise, wie Natur schafft. Interessanterweise führt uns Strindberg damit auf die Spur von zwei Vorträgen am Nachmittag, nämlich dem von Frau Wagner über Spachtel, Besen und Feuer, der sich ebenfalls mit der Produktion beschäftigte, und dem Landscaping, das Anja Kraus mit den Werken von Mariana Vassileva vorstellte.

11:15 bis 12:15: Lotte Warnsholdt: „‘Niemand ist mein Name.‘ Erzählungen aus dem Archiv der Sorge“ 

Der Vortrag von Lotte Warnsholdt über das Wissen und das Selbstbewusstsein derer, die im Ausnahmezustand leben, im Modus der permanenten Unsicherheit und Bedrohung, kam uns in Erzählungen entgegen, die jeweils eine Person im Ausnahmezustand darstellten: Odysseus, der sich durch eine List gegen den Zyklopen wehrt, Elsa Dorlin, die über die Selbstverteidigung der Frau spricht, wie Penelope, die durch das Weben und Knüpfen des Totentuchs die Ungewissheit der Rückkehr des Odysseus zu überwinden sucht, und  schließlich Bella, die Hauptfigur des Romans von Helen Zahavis, die nach von Männern erfahrenen Gewalt von der Verteidigung zum Angriff übergeht und tötet. Bellas Taten werden unintelligible, man kann sie nicht mehr einordnen, sie wird sich selbst unheimlich, aber sie bricht aus dem Muster der schweigend ertragenden Frau aus. Indem sie die Opfer nicht warnt, wappnet sie sie auch nicht. In der letzten Erzählung geht es um eine vielversprechende junge Frau, die in der Technik der Vorhersage geübt ist und es schafft, Gewalt zu vermeiden, allerdings zum Preis ihres eigenen Todes. Was ihr gelingt, ist eine medial übertragene „Rache“ oder Selbstverteidigung auch nach ihrem Tod. Was bedeutet es, in das Archiv der Sorge eingelassen zu sein und nicht als souveränes freies Subjekt, sondern in und mit diesen Banden zu denken und handeln.

Panel III Wie materielle Konstellationen zufallen

14:00 bis 15:30 Hauptvortrag 3, Monika Wagner: „Spachtel, Besen, Feuer. Zufallsgeneratoren in der modernen Kunst“1

Nach der Mittagspausehielt Monika Wagner einen reichhaltigen Vortrag über die Herstellung des Zufalls. Ihre Befragung der Künstler, wie sie den Zufall – auf Englisch accident – in ihren Werken einsetzten, brachte eine interessante Materiallastigkeit zu Tage, die mit der Verwendung eines ungewöhnlichen Pinsels begann: Der Spachtel ist ein Maurerwerkzeug, mit dem Constable in einer „sinnlosen Anhäufung von Zufällen“ wie die Presse schrieb, das flackernde Sonnenlicht auf seine Gemälde warf. Das brachte Bewegung in die Bilder, wie wir es schon vom Skogsnuvismus kennen. Über Gustave Courbets „Woge“ (ebenso ein Spachtelbild, das die auf die Leinwand geworfene Meereswoge auf dem Spachtel zeigt), geht es zur Kunst nach dem zweiten Weltkrieg, wo die Farbe als physikalische Qualität und alle möglichen Alltagsgeräte als Werkzeuge zum Malen ins Spiel kommen. Jean Dubuffets Sandproben sind interessante erste künstlerische Forschungen, Francis Bacon warf mit Farbe und suchte so den Zufall zu seinem Dialogpartner zu machen. Vom eigenen Bild überrascht zu werden, schien sein Ziel zu sein. Yves Klein schließlich spielt mit dem Feuer, das Geist wird durch den Abdruck von Abwesendem. Interessant ist, dass die Bildgenese selbst immer wichtiger wird und nicht das Produkt als Bild selbst. Die Diskussion hat uns hier in die Diskussion der Bildakttheorie geführt und wie wir mit dem Material der Sprache etwas tun, aber auch mit dem Material des Bildes. In beiden Fällen gibt es so etwas wie perlokutionäre Effekte, die dem Zufall überlassen sind.

5.45 bis 16.30 Vernissage Beate Gatschelhofer „Die Aneignung des Zufalls“

Die Vernissage und das Gespräch von Monika Leisch-Kiesl und Beate Gatschelhofer brachten uns die Arbeit mit dem Zufall von Gatschelhofer näher, die beim Töpfern die Abfälle des letzten Moments der Fertigstellung eines Topfes oder einer Vase abschnitt und zufällig fallen ließ, diese dann aufsammelte und ordnete. Die Arbeit im Hörsaal 5 basiert auf diesen Skulpturen, zwei davon stark vergrößert und fünf Fotografien dieser Vergrößerungen wiederum gerahmt.

16:35 bis 17:35: Anja Kraus/Mariana Vassileva: „Landscaping as an Artistic Strategy“ 

In der Pause vor Anja Kraus und Mariana Vassilevas habe ich noch mit einer Kollegin am Tisch über Merleau-Ponty gesprochen, darüber, dass er in der Phänomenologie, die ja so sehr im inneren Zeitbewusstsein verortet ist, der Einzige ist, der wirklich zur Materialität kommt, nämlich in seiner Figur des Chiasmus oder der Invagination oder dem, was er „das Fleisch der Welt“ nennt. Das Landscaping, das Kraus uns als Methode der Bildungswissenschaften in der Arbeit mit Kunst vorstellt, geht genau von dieser Verbundenheit des „Fleisches“ aus, d.h. davon, dass unsere Körper nicht in einer Welt sind, die sie beobachten, sondern Teil dieser Welt, durch dasselbe Material in sie eingelassen. Die Werke von Vassileva veranschaulichen dies gut, etwa der Toro, der mit den Wellen des Meeres kämpft. Meine Frage, woher das Landscaping kommt, rührte daher, dass diese Beziehung zum Fleische der Welt notwendig ist, um zu verstehen, dass wir in der Landschaftspflege uns selbst pflegen.

18:00 bis 19:30 Hauptvortrag 4, Alva Noë: „Die ästhetische Zwangslage“ 

Im letzten Vortrag des Tages sprach Alva Noe über die ästhetische Zwangslage, in der wir uns oft oder gar immer befinden, wenn auch nicht immer bewusst. In seinem Buch Strange Tools gibt es eine Analogie zwischen der Choreografin und der Philosophin. Während wir als Menschen uns- bewegende sind, ist die Choreografin auf einer höheren Ebene eine, die versucht über das Bewegen etwas zum Ausdruck zu bringen. Ebenso ist die Philosophin diejenige, die darüber, dass wir alle Denkende sind ein Netz legt. Diese beiden Ebenen sind untrennbar miteinander verbunden. Was Noe aufgezeichnet hat, ist unser Wahrnehmen der Welt als bewegter Dialog. Meistens haben wir Wahrnehmungsgewohnheiten, die auch dazu führen, dass wir Dinge nicht sehen und vielleicht nichts sehen. Manchmal aber lässt uns die Gewohnheit im Stich und uns fehlen die Kategorien, die Hintergründe und die affektiven Orientierungen. Dann gibt es keine Affordanzen. Dann befinden wir uns in der ästhetischen Zwangslage und die Arbeit beginnt. Die Voraussetzungen sind immer verwirkt oder „entangled“, und die Kunst oder die künstlerische Praxis und die Philosophie sind darauf erpicht genau diese Momente zu suchen.

Samstag, 11.11.

Panel IV Sorgfältig und zufällig experimentieren II: Was rauscht und was aufblitzt

9:25 bis 10:25: Hanako Geierhos: „encounter of randomness“ 

Hanako Geierhos‘ performance ging von einem materiellen Objekt aus, das man als unbestimmt bezeichnen könnte, gerne auch als Socrates Objekt oder object a, ein Objekt, das uns in die von Alva Noe beschriebene ästhetische Zwangslage bringt. Es gelang ihr spielerisch, alle TeilnehmerInnen in eine Interaktion mit dem Objekt und miteinander zu bringen, anfangs schien es noch Entscheidungen zu geben, mitzumachen oder etwas zu tun, bald aber verselbständigte sich das Treiben und wir waren wie gefesselt und verstrickt. Am Anfang gab es interessant Kipppunkte im Schwingen des Objekts (wo man eine Stecknadel hätte fallen hören können). Als einer der Griffe abriss und einen Faden hinterließ, wurde dieser Faden aufgenommen, und als die Künstlerin auf dem Boden lag, nahmen zwei Teilnehmerinnen ihre Hände, wie am Totenbett. 

10:30 bis 11:30: Ania Mauruschat: „Radiophonie, Störung und Erkenntnis. Zur Epistemologie der Radiokunst in den Katastrophenhörspielen von Andreas Ammer und FM Einheit“ 

Der letzte Vortrag des Workshops widmete sich dem Medium Radio und untersuchte die Hörspiele von Andreas Ammer und FM Einheit unter dem Aspekt des Reichtums an Geräuschen unter dem Begriff des „Noise“, der mit Störung, Rauschen, Geräusch, oder auch Lärm und Krach übersetzt werden kann. Für Ania Mauruschat sind die Katastrophenhörspiele als künstlerische Forschungen zu lesen. Ganz im Sinne von Alva Noes Reorganisation der Wahrnehmungsweisen oder Dieter Merschs Begriff des Ereignisses und des Findens statt Forschens, zeigte Mauruschat anhand von zwei O-Tönen und deren Verwendung im Hörspiel, wie das Hörmaterial von den Hörspielmacherinnen in eine neue Wahrnehmungsweise gebracht wurde und damit neue Erkenntnisse ermöglichte. Der Zufall von vorgefundenem Material wird durch die neuartige Kombination neu wahrgenommen. Der Ansatz von B. Siegert und K. Koth, dass sich im Hörspiel das Medium Radio selbst reflektiert und damit ausstellt, den Mauruschat ihrer Lesart entgegenstellt, wurde in der Diskussion aufgegriffen und nebeneinandergestellt.

 

Wie entsteht überhaupt Neues?

In der Antwort auf diese Frage wurden der Kunst und der Wissenschaft gern diametral entgegengesetzte Positionen zugewiesen: Wissenschaftliche Innovation wurde zumeist als Ergebnis gezielter, planbarer Forschung angesehen, künstlerische Neuerung hingegen als das Resultat einer geniehaften Eingebung. Der Blick auf wissenschaftliche und künstlerische Praktiken verrät, wie falsch beide Vorstellungen sind. Ebenso wenig wie ästhetische Formgestaltung aus dem Nichts entsteht, lassen sich wissenschaftliche Tatsachen durch deduktive Verfahren allein erreichen. Zwischen Kunst und Wissenschaft spannt sich vielmehr ein experimentelles Feld auf, in dem das Aleatorische, Serendipität, aber auch materielle Veranlassungen eine weit größere Rolle besitzen als gedacht. Der Workshop fragt danach, welche Rolle medialen Auslösern bei der Verfertigung wissenschaftlicher wie ästhetischer Tatsachen zukommt. Mit medialen Auslösern sind sowohl die im Suchprozess teils zufällig entstehenden Ordnungen des Materials gemeint, deren spezifische Arrangements neue Problemlösungen suggerieren, aber auch das mediale Geschehen zwischen Aktiv und Passiv, wodurch sich die Suchenden etwas einfallen lassen, was sich bislang noch gar nicht denken ließ.

Dass dem Experimentieren mit Verfahren sowohl in der Kunst als auch in der Wissenschaft eine derart signifikante Bedeutung zukommt, legt den Schluss nahe, dass sich in beiden Bereichen das gewünschte Ergebnis oft nur indirekt und non-intentional einstellt. Gelungene Kunstwerke lassen sich ebenso wenig wie Einsichten erzwingen: Bestenfalls lassen sich die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass die Wahrscheinlichkeit ihres Sich-Ereignens steigt. Jede kreative Neugestaltung setzt voraus, dass es gelingt, die Dinge neu und anders zu sehen als bislang, doch das ist leichter gesagt als getan, verhindert doch gerade vielfach die aktive Suche danach, dass sich Einfälle bemerkbar machen. Der Workshop fragt nach dem Verhältnis von Suchen und Finden in kreativen Prozessen, von Linearität und Störung, Zweck und Absichtslosigkeit, aber auch danach, wie sehr der (ästhetische und wissenschaftliche) Geist nicht bereits in körperlichen und stofflichen Anordnungen liegt. Wie sehr sind begriffliche Synthesen lediglich Ausbuchstabierungen vorgängiger unbegrifflicher Synthesen im Material? Wie viele Ideen sind in Wirklichkeit zufallspflichtig? Was ergibt sich aus der Zusammenschau aleatorisch zustande gekommener Elemente? Inwieweit dürfen wir unsere Einfälle als unser eigen verbuchen und inwieweit sind sie vielmehr solches, was uns zufällt, oder gar über uns hereinbricht? Zwischen Aktiv und Passiv, Geist und Materie, explizitem und implizitem Wissen will der Workshop jenen medialen Auslösern Aufmerksamkeit schenken, ohne die es nicht zu den einschneidenden Wenden in unserer künstlerischen wie wissenschaftlichen Welterschließung gekommen wäre.

Sybille Krämer
Das Spielerische, das Kombinatorische und die Kreativität der 'Kulturtechnik der Verflachung' 

Spielen Reduktion und Vereinfachung eine Rolle für das Verständnis von Kreativität? Und welche Bedeutung kommt Medien zu, wenn Kreativität zu erörtert ist? Im Schnittpunkt dieser zwei Fragen stoßen wir auf ein wenig beachtetes Phänomen: Die Reduktion der dreidimensionalen Verfassung unserer Lebenswelt auf zweidimensionale Oberflächen, die etwas darstellen, die mobil sind und sozial teilbar und archiviert werden können. Wir sind umgeben von beschrifteten und bebilderten Flächen, ohne welche die Entwicklung vieler Künste, aller Wissenschaften, komplexer Technik und Architektur sowie eine Verwaltungsbürokratie undenkbar wären. Die ‚Kulturtechnik der Verflachung‘ – beginnend mit Höhlenmalerei und Hauttätowierung, über die Erfindung von Bildern, Schriften, Diagramme und Karten bis hin zum Computerscreen und Smartphone bildet einen Ariadnefaden menschlicher Kultur(geschichte). Was ist das Geheimnis dieser Form von Kreativität?   

  • Sybille Krämer war bis 2018 Professorin für Philosophie an der Freien Universität Berlin und ist seit 2019 Gastprofessorin am Institut für Kulturen und Ästhetik der Digitalen Medien an der Leuphana Universität Lüneburg. Sie war Mitglied des Deutschen Wissenschaftsrats (2000-2006), des European Research Council (2007-2014), des Senats der Deutschen Forschungsgemeinschaft (2009-2015) sowie Permanent Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin (2005-2008). Sie hatte mehrere internationale Gastprofessuren (Santa Barbara, Santiago de Chile, Tokyo, Wien, Yale, Zürich) und Fellowships; 2016 erhielt sie die Ehrendoktorwürde der Universität Linköping/Schweden. 

    Forschungsschwerpunkte:  Mathematik und Philosophie im 17. Jahrhundert; Sprach- und Schriftphilosophie; Medienphilosophie und Theorie der Kulturtechniken; Digitalität und Computergeschichte; Zeugnis und Zeugenschaft. 

    Wichtige Monographien: Sprache – Sprechakt – Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen im 20. Jahrhundert (2001); Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität (2008), auch jap.,engl., ital. Ausgaben; Figuration, Anschauung, Erkenntnis: Grundlinien einer Diagrammatologie (2016); daneben zahlreiche Editionen und Aufsätze.


Lidia Gasperoni (online)
Medien der Effekte. Zur Performativität des Experimentellen 

Der Vortrag zielt darauf ab, die Performativität experimenteller Praktiken am Beispiel der entwurfsbasierten Forschung in der Architektur als neue ästhetische Herausforderung zu thematisieren. Dabei wird der wissenschaftliche und experimentelle Wert von kreativen Prozessen hinterfragt, in denen Zufälle und Einfälle eine determinierende Kraft haben. Das geschieht in Anbetracht der performativen Funktion von medialen Praktiken, die in der entwurfsbasierten Forschung eingesetzt werden. Das Argument für den experimentellen Wert entwurfsbasierter Forschung und die damit verbundene Ästhetik wird in drei Schritten entwickelt: Der erste betrifft die Frage nach dem ästhetischen Wert entwurfsbasierter Forschung, der sich aus dem Vergleich mit einer objektivierenden Auffassung der Natur- und Ingenieurswissenschaften ergibt; der zweite befasst sich mit dem generativen Wert des Experimentierens und der dritte mit dem performativen Wert der entwurfsbasierten Forschung, die eine neue Ästhetik der Effekte benötigt. 

  • Lidia Gasperoni ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Architekturtheorie seit 2018. Sie studierte Philosophie in Rom, Freiburg, Breisgau und Berlin. Sie promovierte an der TU Berlin und habilitierte sich in Italien auf dem Gebiet der Philosophie. Sie lehrt Architekturtheorie und Philosophie mit den Schwerpunkten Medienphilosophie, Anthropozän-Theorien und Ästhetik an der TU Berlin und zuvor an der UdK Berlin und der Universität Kassel. Zu ihren Veröffentlichungen gehören: Versinnlichung (De Gruyter, 2016); Media Agency, mit Christophe Barlieb (transcript, 2020); Artefakte des Entwerfens, mit Anna Hougaard et al. (TU Verlag, 2020), Construction and Design Manual: Experimental Diagrams in Architecture (DOM Verlag, 2022) und mit Matthias Ballestrem, Epistemic Artefacts. A Dialogical Reflection on Design Research in Architecture (AADR 2023). Sie ist Mitglied des Netzwerks Architekturwissenschaft, seit 2020 Präsidentin des gemeinnützigen Vereins Fieldstations


Monika Wagner
Spachtel, Besen, Feuer. Zufallsgeneratoren in der modernen Kunst 

In den bildenden Künsten steht der Zufall seit dem 19. Jahrhundert besonders hoch im Kurs. Die seit der antiken Künstlerbiographik vielfach variierte Erzählung von den zufälligen Spuren eines geworfenen Schwamms galt und gilt noch immer zahlreichen Künstlern wie Kritikern als Urszene für die Stimulation origineller Einfälle. Um zufällige Formen, Spuren oder Materialzustände zu provozieren, dienen zunehmend „unprofessionelle“, alltägliche Arbeitsgeräte wie zum Beispiel Spachtel, Besen und der Einsatz ehemals kunstfremder, weil nicht-formbarer Materialien. Der Einsatz derartiger Geräte und Materialien ist häufig bereits Ausdruck eines Einfalls, einer künstlerischen Idee. In meinem Beitrag geht es um die tatsächliche wie um die vermeintliche Rolle von Arbeitsgeräten und Materialien bei der Generierung nicht oder nur bedingt vorhersehbarer Ergebnisse. Dabei ist auch von Interesse, inwieweit im künstlerischen Arbeitsprozeß zufällig entstehende Erscheinungen durch Übung kontrolliert werden, d.h. inwiefern der Einfall also darin besteht, einen Zufall zu inszenieren. 

  • Monika Wagner studierte zunächst Malerei an der Hochschule für Bildende Künste in Kassel, bevor sie sich der Kunstgeschichte und Literatur an den Universitäten in Hamburg und London zuwandte. Sie war wissenschaftliche Assistentin an der Universität Tübingen, wo sie 1986 habilitiert wurde. Von 1987 bis 2009 lehrte sie Kunstgeschichte an der Universität Hamburg und leitete das Funkkolleg Moderne Kunst. Ihre Arbeitsschwerpunkte betreffen die Kunst des 18. bis 20. Jahrhunderts, Wahrnehmungsgeschichte und -theorie, die Gestaltung des öffentlichen Raums und insbesondere die Semantik künstlerischer Materialien ("Das Material der Kunst", München 2001). Fellowships am Wissenschaftskolleg zu Berlin und am Getty Research Center in Los Angeles boten die Möglichkeit, Materialanalysen auf die Architektur auszuweiten ("Marmor und Asphalt", 2018). Zuletzt erschien "Kunstgeschichte in Schwarz-Weiß. Reproduktion und Methode" (Göttingen 2022). 


Alva Noë
Die ästhetische Zwangslage

Die ästhetische Zwangslage ist viel weiter verbreitet und dauerhafter als die Kunst und das Kunstmachen; sie ist so grundlegend und so ursprünglich wie die Tatsache des Bewusstseins selbst. Das Ästhetische ist eine lebendige Möglichkeit, eine Chance und ein Problem, wo immer wir uns befinden. Wir und der gesamte Bereich unserer Erfahrung und unserer Welt sind hinterfragbar wie die Kunstwerke, die wir machen. Wir sind nicht fest, stabil, definiert und bekannt; allein der Versuch, uns selbst, unser Bewusstsein und unsere Welt in den Fokus zu rücken, reorganisiert und verändert uns. Wir sind ein ästhetisches Phänomen. 

  • Alva Noë ist Professor für Philosophie und Vorsitzender des Fachbereichs Philosophie an der University of California, Berkeley, wo er auch Mitglied des Center for New Media und des Institute for Cognitive and Brain Sciences ist. Professor Noë wurde 2012 mit einem Guggenheim-Stipendium und 2018 mit dem Judd Hume Prize in Advanced Visual Studies ausgezeichnet. Bis Ende 2024 ist er Einstein Visiting Fellow an der Freien Universität in Berlin. Er ist der Autor von Action in Perception (2004), Out of Our Heads: Why You Are Not Your Brain and Other Lessons from the Biology of Consciousness (2009), Varieties of Presence (2012), Strange Tools: Art and Human Nature (2015), Infinite Baseball: Notes from a Philosopher at the Ballpark (2019), und Learning To Look: Dispatches from the Art World (2022). Sein neuestes Buch ist The Entanglement: How Art and Philosophy Make Us What We Are (2023). 


Hans-Jörg Rheinberger
Serendipität – Forschen und Finden

Mein Vortrag beschäftigt sich mit der besonderen "Zufalls"-Konfiguration, die in der wissenschaftlichen Forschung anzutreffen ist. Sie ist unter dem von Robert Merton geprägten Begriff der „Serendipität“ bekannt geworden. Mit anderen Worten: Man stößt auf etwas, wonach man nicht gesucht hat. Man tätigt einen unvorwegnehmbaren Fund. Man kann die Sache auch so beschreiben. Man wird eines Nichtwissens gewahr, dessen man sich gar nicht bewusst war. Episoden aus der Geschichte der Wissenschaften werden herangezogen, um den Sachverhalt zu verdeutlichen. 

  • Hans-Jörg Rheinberger, Direktor emeritus am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte. Studium der Philosophie, Linguistik und Biologie in Tübingen und Berlin. Lebt und arbeitet in Berlin. Neue Veröffentlichungen: Augenmerk. Gedichte. Edition Isele, Eggingen 2022; Split and Splice. A Phenomenology of Experimentation. The University of Chicago Press, Chicago 2023.