Blicke über das Bild hinaus …

Vortrag von Gabriel R. Schor über Leonardo da Vincis Porträt der Cecilia Gallerani („Die Dame mit dem Hermelin“) von 1489/1490 am 13. Mai 2015

„Zwischen Heterologie und Transzendentalmalerei. Leonardo da Vincis erweitertes Porträt der Cecilia Gallerani, genannt die ‚Dame mit dem Hermelin‘ (1489/1490)“ lautete der Titel des Vortrags, den Gabriel Ramin Schor am 13. Mai 2015 an der KTU Linz hielt. Und bei aller Länge und scheinbaren Sperrigkeit bezeichnet der Titel mit Heterologie, Transzendentalmalerei und erweitertes Portrait punktgenau die Route, über die Gabriel Schor die Vortragsgäste an dieses bemerkenswerte Werk Leonardo da Vincis heranführte – oder besser gesagt: durch dieses hindurch und darüber hinaus.

Wer ist dieser Leonardo? Und wer oder was konnte und kann dieser „Uomo universale“ für die Kunstgeschichte sein? In einem einleitenden Umriss der Leonardo-Rezeption beantwortete Schor diese Frage schlicht mit: „Ein Ärgernis“. Ein Ärgernis deshalb, weil Leonardo sich für vieles – für zu vieles – nicht nur interessiert, sondern dieses auch betrieben, theoretisch durchdrungen und weitergeführt habe, einerseits ein „Vollendeter“ gewesen sei, zugleich aber (und vielleicht sogar gerade darin) das Unvollendete bestehen gelassen habe. Die in seinem Werk aufspringenden Sinnebenen spreng(t)en das „Fach Kunstgeschichte“, weil „das Objekt der Wissenschaft, Leonardo und sein Werk, sich dem methodologischen und hermeneutischen Raster des Fachs nicht restlos fügt – und sich auch nicht fügen lässt.“ Und Schor resümierte: „Die Kunstgeschichte ist in ihren stärksten Momenten vor Leonardo gestanden, in ihren schwächeren Momenten neben Leonardo, aber bisher nicht bei Leonardo, und im Sinne einer Verteidigung seines Wollens: nie hinter Leonardo.“

Und eben dieses Wollen Leonardos im Portrait Cecilia Galleranis versuchte Schor in der Folge herauszuarbeiten – vorgetragen wohlgemerkt nicht als apodiktische und abschließende Interpretation, sondern als Vorschlag einer neuen, zusätzlichen Lesart. Diese ist gleichermaßen für bestehende Deutungen anschlussfähig wie sie als Prisma fungieren kann: Denn in Schors Überzeugung fächern sich die Sinnebenen bei der Auseinandersetzung immer weiter auf, ja müssen sich bei diesem Künstler notwendigerweise immer weiter auffächern, da bei Leonardo „Sinn im Singular überhaupt nicht zu haben“ sei.

Das im Krakauer Czartoryski-Museum befindliche Porträt zeigt die zum damaligen Zeitpunkt (nach aktuellstem Forschungskonsens) wohl 15jährige Cecilia Gallerani, Mätresse des Mailänder Herzogs Ludovico Sforza. Diese gesellschaftlich und persönlich präkere Existenz Cecilias habe Leonardo auf eine Art und Weise mitverhandelt, die Bild- und Sinnräume jenseits des konkreten Porträts aufschlägt.

In einer minutiösen Analyse des Bildes und unter Heranziehung von Vergleichsbeispielen zeigte Schor die Verbindung des Nicht-Zusammengehörigen als ein Motiv, das sich durch die Werke Leonardos zieht: Dies werde von ihm so subtil gehandhabt – als begrenzte Durchbrechung ansonsten eingehaltener Konventionen wohl kaum aus Versehen ins Bild gebracht –, dass es oft gerade noch „ins Bild“ passe, und dennoch: bei eingehender Betrachtung sich als Bruch, Disproportion, Disharmonie und Dysfunktion offenbare. Diese Elemente – von Schor im Anschluss an George Bataille als „Heterologien“ bezeichnet – führen bei Leonardo auf Ebenen, die außerhalb des Bildes liegen, jenseits des Bildes, im Falle des Porträts von Cecilia Gallerani geradezu jenseits unserer irdischen Welt. Denn in ein gegenwärtiges Jenseits seien die Blicke sowohl Cecilias als auch des Hermelins gerichtet …

Insbesondere auf die Bedeutung des Hermelins im Bild ging Schor ein. Alle bisherigen Interpretationen hätten ihre Berechtigung und ihre Wahrheit, und doch: Die erst nachträgliche Einfügung des Hermelins, die seltsame Angleichung und das Verschmelzen der Porträtierten und des Tieres – bei dem es sich im Übrigen kaum um einen Hermelin im zoologischen Sinne handelt – liegen dazu quer. Müsse man nicht von einem erweitertenPorträt sprechen, von einem Bild, das nicht nur eine Person porträtiert, sondern auch ein Tier ins Zentrum rückt? Das nicht nur Cecilias präkere Situation, sondern auch das präkere Leben des „seelenlosen Tieres“ in unserer Welt reflektiert? Stellt Leonardo nicht auch die Frage, was das denn für eine Welt sei, in der diese beiden Leben möglich sind?

Am Hermelin machte Schor noch eine weitere Sinnebene fest: Hermeline lieferten den Malern das feinste Pinselhaar und damit ermöglichte das Tier – durchaus lesbar als „Opfer“ für die Malkunst – erst das Gemälde. Wieder führe so das Dargestellte über das Bild hinaus, denn im Porträt der Cecilia sei „das haptische, das taktile Wechselspiel von Sehen und Berühren, von Maler-Auge und Hermelin-Haar eine transzendentalmalerische Reflexion der Malerei über sich selbst, die Reflexion der Bedingung der Möglichkeit von Malerei innerhalb der Malerei selbst – lange vor Diego Velazquez ‚Las Meninas‘ und Vermeers Allegorie der Malerei im Gemälde ‚Die Malkunst‘.“

Dass Schors Vorschlag der Deutung als Prisma fungieren kann und namentlich seine Arbeit am Bild den rund vierzig Gästen beim Vortrag die Augen aufgehen ließ, zeigte sich in der anschließenden konzentrierten Diskussion. In immer neuen Anläufen näherte man sich dem Bild, suchte an Details neue und weitere Sinnebenen festzumachen – und begab sich so immer tiefer in das Werk hinein und blickte zugleich über das konkrete Bild hinaus.



Dr. Gabriel Ramin Schor, geboren 1967, lebt in Wien. Historiker und Philosoph der Kunst, Kunstkritiker sowie Filmemacher. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Malerei/Film/Literatur, Konsens-Kritik, Devianz-Forschung, Politische Philosophie.

Ab 1986 Studium der Philosophie sowie der Theologie, Kunstgeschichte, Soziologie und Psychologie (mit dem Schwerpunkt Psychoanalyse) hauptsächlich an der Universität Wien. Promotion an der Universität Wien mit der Arbeit „Relationen. Studien zum Verhältnis zwischen Philosophie, Literatur und Malerei am Beispiel von Kafka, Rilke und Barnett Newman“ (2001).

Lehraufträge an der Universität für Angewandte Kunst Wien, am Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien, an der Kunstuniversität Linz sowie am Institut für Kunstwissenschaft und Philosophie (IKP) der Katholisch-Theologischen Privatuniversität Linz. Publikations- sowie Vortragstätigkeit, jüngst: Angstlektüre oder „Hobbes“ und die Libidokratie im Rahmen der Konferenz „Produktives Unbehagen“ der Kunsthalle Wien, 11. Jänner 2014; Prousts „Ästhetik der Abweichung“. Zur verborgenen Monstrosität der Recherche im Rahmen des Kolloquiums „Richard Heinrich zu Ehren“, Institut für Philosophie, Universität Wien, 17. Jänner 2014.

Publikationen (Auswahl)

(Hg.), Rousseaus Gespenster. Politische Anthropologie im Kapitalismus, Wien 2014

Der Große Krieg als Spiegelachse. Zu Musils Mann ohne Eigenschaften. Ein Gespräch mit Inka Mülder-Bach (geführt von Gabriel Ramin Schor), in: TUMULT – Vierteljahresschrift für Konsensstörung 3/2014

(Hg.), Fritz Novotny – Paul Cézanne. Gesammelte Schriften zu seinem Werk und Materialien aus dem Nachlass, Wien 2011

Osloer Blut ... oder: ein Mythos und sein tödlicher Code. 1683–2010–2011–2083, in: Vorboten der Barbarei. Zum Massaker von Utøya, hg. von Rainer Just und Gabriel Ramin Schor, Hamburg 2011, 17–48

„Ein neuer Schauder“. Zu Birgit Jürgenssens Maskenphantasien, in: AK Wir sind Maske (Museum für Völkerkunde, Wien, 24. Juni bis 28. September 2009), hg. von Sylvia Ferino-Pagden, Mailand 2009, 358–359

Vom Streben und Sterben. Broncia und ihre Zeit, in: Broncia Koller. 1863–1934, hg. von Boris Manner, Wien 2006, 206–208

Das Leben der Formen. Zum Verhältnis zwischen Archetypus und Moderne, in: parnass 26/4 (2006), 114–118

Der fliegende Holländer – Willem de Koonings Topik der Sensation, in: AK Willem de Kooning (BA-CA Kunstforum, Wien, 13. Jänner bis 28. März 2005 / Kunsthal, Rotterdam, 17. April bis 3. Juli 2005), hg. von Ingried Brugger, Wien 2005, 11–24

RK, Juni 2015