Gedächtnisbuch Oberösterreich mit neuen berührenden Einzelbiografien

Am 9. Mai 2023 fand um 19 Uhr die diesjährige Präsentation der neuen Beiträge des Gedächtnisbuches Oberösterreich im Linzer Mariendom statt. Das Projekt ermöglicht das Sichtbarmachen individueller Schicksale oberösterreichischer Menschen, die im Nationalsozialismus verfolgt wurden oder ihr Leben durch widerständiges Handeln gefährdeten.

Das Gedächtnisbuch Oberösterreich ist eine fortlaufend erweiterte Sammlung von Biografien zu Personen, die im Nationalsozialismus aus den verschiedensten Gründen verfolgt waren oder durch widerständiges Handeln gegen das NS-Regime ihr Leben in Gefahr brachten. In einem jährlich stattfindenden Projektablauf werden Teilnehmer:innen zur historischen Recherche und Auseinandersetzung mit einer ausgewählten Biografie angeleitet. Ziel ist dabei die Gestaltung eines vierseitigen Porträts aus Text, Bild und/oder Dokumenten, das als bleibendes Zeugnis in das Gedächtnisbuch eingefügt wird. Diese „neuen Seiten“ des Gedächtnisbuches werden jeweils bei der jährlich stattfindenden feierlichen Präsentation aufgeschlagen. Ergebnis ist eine wachsende Sammlung von NS-Verfolgtenbiografien im regionalen Kontext Oberösterreichs, die im Medium Buch an zentralen Orten aufbewahrt und zugänglich sind. Das Gedächtnisbuch OÖ kann im Mariendom Linz und im Linzer Schlossmuseum aufgeschlagen werden. Ziel ist es, das Gedächtnisbuch in verschiedene Kontexte des Erinnerns zu verorten und die erarbeiteten Biografien in die Gedenkkultur des Landes Oberösterreich einzubinden.

Das großformatige Objekt wurde eigens von einer Welser Buchbinderei in Handarbeit für diesen Anlass angefertigt. Das Buch ist damit mit seiner langlebigen und kunstvollen Materialität das Medium für Geschichte und Erinnerung. Es ist Symbol für das Aufzubewahrende. Das Buch steht dabei nicht in Opposition zu digitalen Medien und deren Flüchtigkeit, sondern ist als Referenz an die zerstörerische Gewalt der Nationalsozialisten gedacht, die in den Bücherverbrennungen vor 90 Jahren, am 10. Mai 1933, zum Ausdruck kam.

 

Die Präsentation im Mariendom

Das Projektteam Dr. Andreas Schmoller und Dr.in Verena Lorber (Franz und Franziska Jägerstätter Institut der KU Linz), Mag. Florian Schwaninger (Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim), Prof. Dr. Thomas Schlager-Weidinger (Private Pädagogische Hochschule der Diözese Linz) und Dr.in Erna Putz konnten an diesem Abend neben Diözesanbischof Manfred Scheuer die Kulturdirektorin des Landes Oberösterreich Mag.a Margot Nazzal, den Präsidenten des internationalen Mauthausenkomitees Guy Dockendorf und den Leiter des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstands Dr. Andreas Kranebitter unter den zahlreichen Gästen begrüßen. Unter Moderation von Dr.in Verena Lorber vom Franz und Franziska Jägerstätter Institut der KU Linz stellten die Beitragenden die erarbeiteten Biografien vor und präsentierten anschließend die frisch eingefügten Seiten im inzwischen fünf Jahrgänge umfassenden Buch. Die musikalische Umrahmung übernahm Domorganist Wolfgang Kreuzhuber mit Improvisationen, welche die präsentierten Texte musikalisch verdichteten.

Die Beiträge

In diesem Jahr setzte sich mehr als die Hälfte der Beitragenden mit Personen der eigenen Familiengeschichte auseinander. Manche Beitragende betonten, dass ihre Verwandten mit der Aufnahme ins Gedächtnisbuch endlich einen fixen Platz erhalten hätten. Der geografische Schwerpunkt der diesjährigen Beiträge liegt auf Linz und Linz Umgebung.

 

  • Die Linzer Soziologin Waltraud Finster hat sich auf die Spuren über den in der Familie verschwiegenen Großonkel, Josef Finster (Linz) begeben, der im KZ Flossenbürg zu Tode kam. Sie beleuchtete damit aus persönlicher und fachlicher Perspektive die Verfolgtengruppe der sogenannten „Berufsverbrecher“, eine Häftlingsgruppe, die in der Erinnerungskultur weitestgehend ausgespart blieb.
  • Zäzilia Fischböck war eine Magd aus Herzogsdorf, der das Verhältnis zu einem Zwangsarbeiter zum Verhängnis wurde. Sie wurde im Juni 1942 von der Gestapo inhaftiert und starb wenige Monate später im KZ Auschwitz. Die Großnichte Lucia Maria Valero erinnert an sie in Form eines an ihre Großtante gerichteten Briefes.
  • Alfred Pühringer, katholischer Buchhändler in Linz, wurde ohne klare Verdächtigungen durch die Gestapo 1940 in „Schutzhaft“ genommen wurde und nach sechs Monaten unter ungeklärten Umständen freigelassen. Gottfried Pühringer, Sohn von Alfred Pühringer, ist im Besitz der Gefängnisaufzeichnungen seines Vaters und hat mit Andreas Schmoller, Leiter des Franz und Franziska Jägerstätter Instituts, diese Biografie gewürdigt.
  • Margit Kain würdigt in ihrem Beitrag den mutigen Widerstand ihrer Tante Theresia Reindl aus Linz. Durch ihre Kontakttätigkeit und Aktivitäten innerhalb der illegalen kommunistischen Partei geriet sie 1944 in Haft und entging bei Kriegsende nur knapp der Ermordung im Lager Schörgenhub.
  • Martin Kranzl-Greinecker hat sich nach einer zufälligen Bemerkung einer Verwandten auf die Spuren seines Großonkels Franz Humer aus Kematen am Innbach begeben. Er war traumatisiert aus dem Ersten Weltkrieg heimgekehrt und Jahre später in die „Landesirrenanstalt Niedernhart“ eingewiesen worden. 1940 wurde er im Zuge der NS-Euthanasie im Schloss Hartheim ermordet.
  • Karoline Hartl, Bäuerin in Utzenaich, Bezirk Ried im Innkreis, wurde von ihrem Sohn Siegfried, einem begeisterten Hitler-Anhänger, denunziert. 1943 wurde sie zu drei Monaten Haft wegen Schwarzschlachtens, Anfang 1944 wegen Hören eines Fremdsenders zu 15 Monaten Haft verurteilt.  Der Regionalhistoriker Gottfried Gansinger hat auf Basis von Dokumenten aus Privatbesitz der Tochter diesen Beitrag verfasst.
  • Erwin Zeinhofer vom Museum Pregarten schildert die Lebensgeschichte von Dorothea Epstein, einer jüdischen Apothekerin in Pregarten, die nach ihrer Deportation in das Ghetto Litzmannstadt, im Mai 1942 in Kulmhof ermordet wurde.
  • Die Historikerin Alexandra Wachter beschreibt die ergreifende Geschichte von Aloisia Hofinger aus Ottensheim. Auch sie wurde wegen „verbotenen Umgangs“ mit einem polnischen Kriegsgefangenen verhaftet.
  • Johann Steinbock, ein Priester aus St. Agatha, der in Ried i. I. und Steyr tätig war, bevor er wegen NS-feindlicher Haltung inhaftiert und in das KZ Dachau verschleppt wurde. Karl Ramsmaier, Vorsitzender des Mauthausen Komitee Steyr, ruft die Geschichte des langjährigen Pfarrers von Steyr in Erinnerung.

 

Gegen die Kartografie des Bösen

Bischof Manfred Scheuer begann sein Schlusswort mit einer persönlichen Notiz. Pfarrer Steinbock war der Onkel seines Firmpaten, durch den er auch zum ersten Mal das Buch „Christus in Dachau“ las. Scheuer stellte das Aufschlagen der neuen Seiten im Gedächtnisbuch, das zum Fixpunkt in Linz geworden ist, in den Kontext gegenwärtiger Erinnerungskultur und deren gesellschaftlicher Bedeutung: „So nehmen uns die neuen Seiten, die heute im Gedächtnisbuch aufgeschlagen werden, an der Hand und wollen mit uns ‚unerforschtes Gebiet‘ entdecken. Sie zeigen Facetten dessen auf, was die Zeit des Nationalsozialismus mit unserer Gesellschaft machte, mit den Menschen, mit Organisationen, mit dem Staat. Sie zeigen auch, dass es Menschen gab, die sich gegen die Kartografie des Bösen stellten.“

 

Besonderes Gedenkprojekt

Das Gedächtnisbuch ist ganzjährig im Linzer Mariendom und im Oberösterreichischen Landesmuseum aufgelegt. Eine digitale Fassung findet sich auf der Webseite des Jägerstätter-Instituts (www.ku-linz.at/gedaechtnisbuch_ooe).

Was sind die Kennzeichen dieses Projektes? Das Gedächtnisbuch Oberösterreich verbindet Wissenschaft und Forschung mit gelebter partizipativer Erinnerungskultur. Das Projekt führt geschichtlich bis in die kleinsten Dörfer des gesamten Bundeslandes Oberösterreich. Es umfasst damit die diversesten sozialen Gruppierungen, Altersgruppen, Weltanschauungen, Verfolgungsgründe, auch solche, deren Erinnerung teils bis in die Gegenwart eine Leerstelle darstellen.

Um Teil des Projekts zu werden und selbst eine Verfolgtenbiografie in das kollektive lokale Gedächtnis aufzunehmen, können sich Interessierte an das Franz und Franziska Jägerstätter Institut wenden (ffji@ku-linz.at).

Text: AS, Fotos: © Diözese Linz / Kienberger (honorarfrei)