Nomadische Ringvorlesung. Wittgenstein und die Zerzeigung in der Steingasse.

Im Rahmen der "Nomadischen Ringvorlesung: Stadtamnesien/Hacking the City", bei der sich Lehrende des neuen Bachelor-Studiengangs Kulturwissenschaften aus drei Linzer Universitäten an unterschiedlichen Orten der Linzer Innenstadt mit Funktionen des Vergessens bzw. Sich-Erinnerns auseinandersetzten, referierte Assistenzprofessorin Aloisia Moser vom Institut für Geschichte der Philosophie der Katholischen Privat-Universität Linz über "Wittgenstein und die Zerzeigung in der Steingasse, oder Keine Angst vor Wittgenstein!".

Beim sechsten und letzten Termin der "Nomadischen Ringvorlesung" trafen sich am 18. Juni 2021 Lehrende und Studierende bei Rekordhitze in der Lobby des Star Inn Hotels, des früheren Bundesrealgymnasiums in das nicht nur Ludwig Wittgenstein, sondern auch Adolf Hitler und Adolf Eichmann – letzterer allerdings in der Fadingerstraße, im neuen Gebäude des Gymnasiums – gegangen sind. 

Aloisia Moser, Wittgenstein-Forscherin und Assistenzprofessorin an der Katholischen Privat-Universität Linz, hatte den Ort ausgesucht – "denn: Gibt es irgendetwas Nomadischeres als Hotel-Lobbies?" und "weil sie die Studierenden und sich vor Hitze oder Regen schützen wollte". 

Am früheren Haupteingang der Schule ließ das Denkmalamt einen weißen Pfeil anbringen, welcher Ausgangspunkt für Mosers Vortrag "Wittgenstein und die Zerzeigung in der Steingasse" war. Worauf dieser Pfeil zeigt – dorthin, wo früher die Tür war und jetzt ein riesiges Glasfenster ist – und was der Pfeil damit sagt, war das Thema des Vortrags.  

In drei Teilen sprach Moser erst über die Bildtheorie des Tractatus Logico-Philosophicus – eine Theorie, die erklärt, wie die Sätze der Sprache etwas über die Welt sagen, das wahr oder falsch sein kann. Wittgenstein stellt uns eine Theorie vor, in der das Zusammenstellen der Wörter im Satz wie das Zusammenstellen der Dinge im Sachverhalt funktioniert. Die Sprache ist dann ein Modell der Welt. Allerdings werden in Sätzen mögliche Sachverhalte probeweise zusammengestellt und dann verglichen. "Der Pfeil zeigt auf den Haupteingang" ist wahr, wenn und nur wenn der Pfeil auf den Haupteingang zeigt.

Gleichzeitig tun Sätze aber noch etwas anderes. Das Zusammenstellen der Elemente im Satz selber ist eine Struktur, die den Sinn des Satzes schon beinhaltet. Dieser Sinn zeigt sich im Satz, kann aber selber nicht wieder "gesagt" werden. Genauso teilt der Satz als Bild eine logische Form mit dem, wovon er ein Bild ist. Aber diese logische Form selber kann der Satz auch nicht sagen, sondern sie zeigt sich. Versucht man diese Form zu sagen, entsteht Unsinn, nicht Sinn, und die Sätze des Tractatus werden am Ende von Wittgenstein verworfen, da sie philosophische oder logische Sätze sind, die genau das versuchen zu tun: etwas über die logische Form des Satzes zu sagen. 

Im dritten Teil des Vortrags ging es dann um die "Zerzeigung", ein Begriff, den der deutsche Philosoph Dieter Mersch nach Wittgenstein geprägt hat und mit dem er der logischen Arbeit des Begriffs ein Äquivalent in der Ordnungsarbeit im Ästhetischen gegenüberstellen möchte. Die Zerzeigung muss man sich als eine musternde Arbeit im Material vorstellen, eine Form von "und und und", die Mersch in einem Vortrag an der Katholischen Privat-Universität Linz im Januar 2018 erstmals genauer beschrieben hat. 

Moser indes interessiert sich nicht nur für Wittgenstein, sondern für diese musternde Form im Ästhetischen, aus der man doch "etwas" erkennen kann – sie arbeitet an einer Theorie des Ratens, das in die Begriffsarbeit des Denkens genau dieses sinnliche musternde Element des Ratens eintragen möchte. Das neue Buch von Aloisia Moser "Kant, Wittgenstein and the Performativity of Thought" erscheint nächsten Monat.

Nomadische Ringvorlesung.

Die sechsteilige Reihe "Nomadische Ringvorlesung: Stadtamnesien/Hacking the City", angeleitet und moderiert von Professorin Amalia Barboza und Professor Marcus Gräser, bot Studierenden des Bachelorstudiengangs Kulturwissenschaften an unterschiedlichen Orten der Linzer Innenstadt die Möglichkeit, sich einen Überblick über die vorhandenen Fächer zu verschaffen und mit den Lehrenden ins Gespräch zu kommen.

Was wird in einer Stadt aufbewahrt, gepflegt und in Erinnerung behalten? Was gerät in Vergessenheit? Was möchte man am liebsten vergessen haben? Was lässt sich nicht vergessen? Und "was wäre, wenn" sich das Geschehen in einer Stadt anders entwickelt hätte? Welche Funktionen hat überhaupt das Vergessen und das Sich-Erinnern? Lehrende des neuen BA-Studiengangs Kulturwissenschaften aus drei Linzer Universitäten setzten sich mit diesen Fragen auseinander und machten mit unbeachteten Orten der Stadt Linz bekannt. Dabei wurden auch unterschiedliche kulturwissenschaftliche und künstlerische Ansätze erkennbar, welche die Vielfalt der Fächer in dem Studiengang kennzeichnen.

8.7.2021/AM/HE