Pascal Zambito über Systemdenken bei Wittgenstein, Musil und Broch.

Im Rahmen der Vortragsreihe "Stichproben", eine Kooperation des Mittelbaus der Katholischen Privat-Universität Linz mit dem Kepler Salon, thematisierte der Philosoph und Germanist Pascal Zambito am 20. Oktober 2020 die Erfahrung der Moderne, dass sich die Welt nicht in ein totales System sperren lässt.

Wittgenstein, Musil, Broch: Systemdenken und seine Widersprüche in Wien um 1930.

Der Abend begann mit dem Ausstechen der Bibelstelle Numeri 30,2-17, die sich mit der Verbindlichkeit von Gelübden beschäftigt. Der Philosoph und Germanist Pascal Zambito versprach feierlich, seinen Auftrag, über logischen Raum und Systemdenken bei Ludwig Wittgenstein, Robert Musil und Hermann Broch zu sprechen, auszuführen. Er begann mit einer bekannten Genesisstelle und setzte den Apfel als Bedingung der Möglichkeit des guten bzw. bösen Handelns an – also der Ermöglichung eines Systems von Gut und Böse, das vor dem Essen des Apfels noch gar nicht in Kraft war. Somit lässt sich das Essen des Apfels an sich nicht als gut oder böse kategorisieren – es hat noch keinen Sinn, in dem System, das es erst ermöglicht.

Zambito zeigt auf, dass es sich so auch mit den Sätzen in Wittgensteins Traktatus (der Logisch-Philosophischen Abhandlung) verhält. Erst nach und nach wird durch den Traktatus eine Grenze zwischen Sinn und Unsinn gezogen – also ein System erstellt, mit dem sich wahr/falsch auf die Welt beziehen lässt. Dies führt dazu, dass Wittgenstein seine Sätze als sinnlos erkennen und wie er selbst sagt: „die Leiter umwerfen“ muss. Auch bei Musil, insbesondere in dessen Hauptwerk Mann ohne Eigenschaften, findet sich ein Spiel mit dem Verhältnis von Möglichkeit und Tatsächlichkeit. Etwa wenn beiden Hauptfiguren im Laufe des Romans andere Namen im Konjunktiv gegeben werden: Sie könnten so oder so geheißen haben, haben sie aber nicht. Brochs Roman Die Schlafwandler (laut Zambito ein „Stiefkind der Germanistik“) handelt vom Zerfall der Werte. Dieser kumuliert darin, dass der Hauptprotagonist zum Endprodukt dieses Wertezerfalls wird und sich vom System jedes Denken und jede moralische Reflexion abnehmen lässt.[1]

Der Vortrag beschäftigte sich in erster Linie mit der Erfahrung der Moderne, dass sich die Welt nicht in ein totales System sperren lässt und in immer mehr Teilsysteme aufgespaltet wird. Anhand der drei Denker Wittgenstein, Musil und Broch erläutert Zambito, wie sie versuchen ihren Gegenstand aus einer Vielzahl verschiedener Perspektiven zu beleuchten. Die Gemeinsamkeit der drei Denker liegt darin, dass sie Sprache und Denken als formale Systeme begreifen – nämlich in einem räumlichen Sinn, während die Grammatik in bestimmten logischen Strukturen abläuft. Dadurch werden die Handlungen nicht isoliert betrachtet, sondern stehen immer schon in einem räumlich-logischen Verhältnis zu anderen Sätzen und bilden ein Geflecht wechselseitiger Abhängigkeiten.

Eine Vorstellung vom logischen Raum mit Wittgenstein

Zambito kommentiert, wie wir uns den logischen Raum vorstellen können. Dazu erklärt er das Spiel Schiffe versenken anhand Wittgensteins Bildtheorie: SpielerIn 1 trägt in einem räumlichen Raster Schiffe auf verschiedenen Positionen ein. SpielerIn 2 beginnt durch das Abfragen der Positionen das Bild der Mitspielerin/des Mitspielers auf das eigene leere Raster zu übertragen. Anhand möglicher Treffer werden die Positionen der Schiffe im Raum erraten. Sätze sind laut Wittgenstein Möglichkeitssätze: Sie bilden mögliche Sachverhalte ab und stellen uns die Sachlage im logischen Raum vor. Die Form der Abbildung muss mit der Realität etwas gemein haben. So erhält SpielerIn 2 ein Bild der Welt von SpielerIn 1. Letztlich geht es Wittgenstein um die Möglichkeiten der Sprache im Weltbezug. Zambito verweist darauf, dass im späteren Werk diese Totalität des Raumbegriffs aufgegeben wird. Wittgenstein spricht dann von Sprachspielen als Abgrenzungen von Möglichkeitsräumen. Die Regeln der Sprache bestimmen was Un-/Sinn ist und was man machen und nicht machen kann.[2]

Musils Möglichkeitssinn

Musils Mann ohne Eigenschaften ist voller geistiger Ereignisse und Reflexionen. Der Autor widmet sich im vierten Kapitel dem Möglichkeitssinn und denkt das, was ist und das, was nicht ist. Er denkt eine schwache und eine starke Spielart des Möglichkeitssinns – ersterer beispielsweise in Träumen, letzterer in dem Erwecken von neuen Möglichkeiten[3]. Musil meint, Wirklichkeitsmenschen könnten nur die Bäume sehen, während Möglichkeitsmenschen den Wald in ihrer Gesamtheit sehen würden.

Brochs Zerfall der Werte und Scheintautologien

Im ersten Teil von Brochs Trilogie Die Schlafwandler ist der Protagonist ein konventioneller Junker aus Preußen, der an der Tradition hängt. Im zweiten Teil lesen wir vom performativ dargestellten Esch, der in die Anarchie abdriftet. Der Sprachstil entspricht dem beschriebenen Wertezerfall. Dem Publikum besonders ans Herz legt Zambito schließlich den Protagonisten Hugenot aus dem dritten Teil. Er bewegt sich wie schlafwandlerisch durchs Leben, frei von allen Moralsystemen. Die trügerische Vielfalt lässt ihn denken, er hätte alle Möglichkeiten. Anhand dieser Geschichte wird die Zersplitterung der Welt besonders deutlich und Hugenot bewegt sich letztlich nur mehr in Scheintautologien.[4] Die Tautologien erinnern auch an die Sätze des Traktatus: Jene Sätze, die als Wahrheitswert immer wahr und damit tautologische Sätze sind – also Sätze ohne Sinn.[5]

In der abschließenden Diskussion ging es vor allen Dingen um die Frage eines Relativismus, der sich aus dem Zerfall notwendig ergibt und der Hoffnung, dass es mehr ein Relationismus ist. Da es die faktische Positionierung innerhalb eines Spieles und die Analyse von verschiedenen Möglichkeiten, die statisch sind, nicht mehr gibt, sind wir nicht dazu verdammt, im Relativismus zu landen, sondern es geht darum sich ständig ein neues relationales System zu erschaffen – und auch darum, dass jede Perspektive legitim ist.

27.10.2020/am, kd


[1] Zambito weist darauf hin, dass Broch mit Hannah Arendt befreundet war, die später das totale Aufgehen in einem System als Banalität des Bösen beschreiben sollte.

[2] Allerdings gibt es dann auch die Möglichkeit, die Regeln zu ändern und ein anderes Spiel zu spielen. Nicht umsonst meint der späte Wittgenstein, Philosophie könne man eigentlich nur dichten.

[3] Das kommt Wittgensteins Erfinden von neuen Spielen sehr nahe.

[4] Im Krieg sowie im Schlaf wechselt Esch von der deutschen zur französischen und wieder zur deutschen Seite zurück und zuckt dabei nur mit den Schultern: „Krieg ist Krieg“. Auch als Geschäftsmann passt er sich perfekt an und meint „Geschäft ist Geschäft.“ Hier fällt nicht zum ersten Mal der Vergleich der 1930iger Jahre mit der heutigen Situation auf. Zambito weist darauf hin, dass „Brexit ist Brexit“ in dieselbe Bresche schlägt. In einer Anspielung wird Hugenot zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten, der in den letzten vier Jahren gezeigt hat, wie man die Darstellung der Tatsachen verdreht, so dass sie einem in den Kram passen und eine Wirklichkeit erzeugt, die einem zuträglich ist.

[5] Denn der Sinn ist durch das System, das Wittgenstein im Traktatus erstellt, bedingt. Die Sätze selber fallen noch nicht in das von ihr erschaffene System.