Neue Theologisch-praktische Quartalschrift: Nahe bei den Menschen.

In der aktuellen Ausgabe der Theologisch-praktischen Quartalschrift "Nahe bei den Menschen" sind sich die Autor*innen einig, dass diakonisches Handeln herausfordernd sein kann und ein hohes Maß an Selbstreflexion bedarf.

Liebe Leserinnen, liebe Leser!

Altarretabeln und Deckenfresken, figürliche Darstellungen innerhalb der Kirchen oder an Kirchenportalen, Bebilderungen in Handschriften und Drucken sowie Kunstwerke aller Art zeigen sie über die Jahrhunderte hinweg zuhauf: Menschen – einfache Christinnen und Christen genauso wie professionalisierte Personen und Institutionen –, die sich ihrer Nächsten annehmen, Armen Kleidung, Nahrung oder Geld als Almosen spenden, Kranke versorgen, Obdachlose aufnehmen, Gefangene befreien, Tote bestatten. In Anlehnung an die sieben Werke der Barmherzigkeit ist solches Handeln, das wir heute als caritativ, als diakonisch bezeichnen, Ausdruck eines Lebens in der Nachfolge Jesu und Mitwirken an der Auferbauung des Reiches Gottes. Indem sich Menschen helfend denen zuwenden, die Not leiden, die außerhalb der Gesellschaft stehen oder marginalisiert sind, die nicht zu Wort kommen, keine Beachtung finden, sich selbst nicht oder nur bedingt Recht verschaffen können, wird Nächstenliebe mit Gottesliebe verbunden. Bei einem solchen Nahe-beiden-Menschen-Sein geht es jedoch nicht einfach um Mitleid, um herzloses Geben und schon gar nicht um das Ansammeln von Verdiensten. Im Gegenteil ist allein die selbstlose Hingabe um der anderen willen, das sich ganz und gar Einlassen, das sich Hinwenden von ganzem Herzen Ausdruck des Bekenntnisses zu Christus.

Mag diese innere Haltung auch in den bildlichen Darstellungen nur bedingt zum Ausdruck kommen, so spiegeln sie auf jeden Fall Predigten, Tugendkataloge, Stunden-, Haus- und Andachtsbücher. Wie voraussetzungsreich also und selbstreflexiv, wie radikal, weitreichend und konsequent ein solches Nahe-bei-den-Menschen-Sein verstanden und gelebt werden kann, ja vielleicht muss, wie mühselig und kräftezehrend, nicht selten verbunden mit einem Schwimmen gegen den Strom es ist, aber auch welche Gratwanderung diakonisches Handeln in sich birgt, damit es nicht selbstausbeuterisch oder den anderen vereinnahmend wird, will unser Heft in gewohnt vielfältiger Weise beleuchten.

Insoweit führt uns die Heidelberger Religionspädagogin Katja Boehme im ersten Beitrag mitten ins Thema hinein. Mit Madeleine Delbrêl bringt sie uns eine Frau nahe, die als Laie inmitten der marxistischen Umgebung des französischen Arbeiterpriestertums in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Gott selbst so ergriffen war, dass sie sich außerhalb jeglichen institutionalisierten Rahmens, ohne spezifische Beauftragung oder ein entsprechendes Amt liebe- und hingebungsvoll jedem Menschen unabhängig von seinem Glauben zuwenden konnte, weil ihr in ihm Gott selbst begegnete. An wie vielen Orten und in welch unterschiedlichen Kontexten sich auch heute Menschen in diesem Geist mit Herzblut – ehrenamtlich oder von Berufs wegen – für die Nächsten engagieren, zeigen vier eindrucksvolle Praxisbeispiele, die durchaus unter die Haut gehen: eine besondere Form des Krisenmanagements durch Jugendliche und junge Erwachsene, ein Schulseelsorgekonzept, das auch staatlich angestellte Lehrkräfte anzieht, ein Hotelbetrieb, der auf die Fähigkeiten und Talente von Flüchtlingen setzt, sowie eine ganzheitliche Form der Erwerbslosenhilfe. Dass ein solches Handeln schon allein aufgrund der dem Christentum zugrundeliegenden Anthropologie bedingungslos und zweckfrei, ja absichtslos geschehen muss, zeigt der Paderborner Pastoraltheologe Herbert Haslinger im darauffolgenden Beitrag. Die institutionalisierte Caritas und die kirchlichen Amtsträger durchaus kritisch in den Blick nehmend, benennt er letztlich vier Kriterien, die für ein diakonisches Handeln leitend sein müssen. Diesen Faden nimmt der ehemalige Münsteraner Fundamentaltheologe Jürgen Werbick insoweit auf, als auch er betont, dass Menschen sich ganz und gar in ihrer Einzigartigkeit annehmen und herausfordern lassen sollten. Zugleich räumt er ein, welch fordernde Spannung zwischen der hingebungsvollen Begegnung und der überfordernden Nähe zu den Nächsten besteht, um die befreiende Botschaft des Evangeliums erfahrbar zu machen. Dass selbst das Kirchenrecht nahe beim Menschen sein kann, zeigt die Regensburger Fachvertreterin Sabine Demel, wenn sie konstatiert, dass selbiges als von Liebe und Barmherzigkeit getragene Einzelfallentscheidungen erfordert sowie der Heilung und Rettung der und des Einzelnen in der Gemeinschaft dient. Die Linzer Christian Spieß und Katja Winkler führen schließlich vor dem Hintergrund der Analyse von Äußerungen Papst Franziskus’ aus der Perspektive der Christlichen Sozialwissenschaften inspirierend vor Augen, dass ein Eintreten für die Armen und Marginalisierten Dekonstruktion von Machtverhältnissen und Inklusion sein muss, jedoch im Sinne der Konstruktion eines Gesellschaftssystems, das nicht einfach einbezieht, sondern von den Bedürfnissen der Ohnmächtigen her geschieht.

Das Heft wird mit einem Beitrag von Predrag Bukovec abgeschlossen, der angesichts einer veränderten Anthropologie und Pastoral dringend eine Überarbeitung des Hochgebets für Gehörlose anregt.

Geschätzte Leserinnen und Leser!

Nahe bei den Menschen zu sein, erscheint nur auf den ersten Blick als leicht. Darin sind sich unsere Autorinnen und Autoren einig. Vielmehr fordert es die Handelnden in besonderer Weise heraus. Soll nämlich diakonisches Handeln auf der einen Seite nicht einfach Vereinnahmung oder Überformung sein und auf der anderen Seite zur Selbstausbeutung führen, bedarf es eines hohen Maßes an Selbstreflexion sowie Selbst- und Fremdwahrnehmung, eines beständigen Hinterfragens der eigenen Handlungsmuster und der zugrundeliegenden Wertmaßstäbe, verbunden mit einem immer neuen Ausloten der Grenzen zum Gegenüber als Abbild Gottes.

Eine spannungsreiche Lektüre wünscht Ihnen

Ihre
InesWeber
(Chefredakteurin)

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7.12.2021/kd