Maximilian Aichern-Vorlesung: Karl Gabriel über Gesichter der Religion.

Einen religionssoziologischen Schwerpunkt bot die im Wintersemester 2022/2023 zum 20. Mal stattfindende Maximilian Aichern-Vorlesung. Vom 8. bis 10 November erörterte Prof. em. Dr. Dr. Dr. h.c. Karl Gabriel grundlegende Überlegungen zum Religionsbegriff und zur Funktion der Religion in modernen Gesellschaften sowie vor allem die vielfältigen Dynamiken der Säkularisierung.

Diese, für die Modernisierungstheorien einst zentrale Annahme eines Bedeutungsverlusts oder gar eines Verschwindens der Religion in der Moderne wird heute in einem verzweigten Diskurs äußerst kontrovers diskutiert. Einerseits seien Tendenzen der Säkularisierung zweifellos erkennbar, andererseits zeichneten sich Phänomene einer Revitalisierung der Religion ab, so etwa das Erstarken evangelikaler und pfingstkirchlicher Glaubensorganisationen, neue Verknüpfungen von Religion und Nation, Bezugnahmen auf Religion in Bürgerkriegen u.a. Gabriel unterschied sieben solcher gegenwärtiger "Szenen" vitaler Religion bzw. Religiosität.

In seinem öffentlichen Abendvortrag am 9. November 2022 unter dem Titel "Die vielen Gesichter der Religion in der Weltgesellschaft. Der ambivalente Einfluss der Globalisierung auf das religiöse Feld" analysierte Karl Gabriel die Stellung der Religion im Rahmen der Globalisierung und skizzierte zwei Szenarien möglicher Entwicklungen der Religion in der Weltgesellschaft: zum einen eine Art "Welt-Zivilreligion", bei der sich aus aneinander angeglichenen Religionen bestimmte übergreifende Motive als allgemeine religiöse Bezugspunkte etablieren; zum anderen das Modell öffentlicher Religionen in einer Welt-Zivilgesellschaft.

Im Anschluss an den Gedanken der "Multiple Modernities" (S.N. Eisenstadt) betonte Gabriel in der Abschlusssitzung der Vorlesung schließlich, dass religiöse Phänomene in einer großen Vielfalt und Unterschiedlichkeit in der Weltgesellschaft wahrzunehmen sind. Globale Säkularisierungsprozesse einerseits und weltweite religiöse (Re)Vitalisierungsphänomene andererseits laufen aktuell parallel ab. Statt von einem Widerspruch zwischen Moderne und Religion sei deshalb von einer religiösen Dynamik innerhalb der verschiedenen Erscheinungsformen der Moderne auszugehen, statt von Säkularisierung eher von einer Transformation der Religion.

Karl Gabriel lehrte zuletzt an der Universität Münster Christliche Sozialwissenschaften und war Vorstandsmitglied des Münsteraner Exzellenzclusters "Religion und Politik", dem er noch heute als Forscher verbunden ist. Zu seinen Publikationen gehören die Bände "Christentum zwischen Tradition und Postmoderne", "Umstrittene Säkularisierung", "Catholicism and Religious Freedom. Renewing the Church in the Second Vatican Council" sowie, 2022 erschienen, "Die vielen Gesichter der Religion". 2023 werden mit dem Band "Häutungen einer umstrittenen Institution" neue Überlegungen zu einer "Soziologie der katholischen Kirche" erscheinen.

Mit der von der Arbeitsgruppe "Wirtschaft – Ethik – Gesellschaft" veranstalteten "Maximilian-Aichern-Vorlesung" schließt sich die KU Linz jenem Grundanliegen an, für das Bischof Maximilian Aichern stets glaubwürdig und engagiert eingetreten ist: die Auseinandersetzung mit den Herausforderungen und Möglichkeiten einer christlich-sozialen Gestaltung der Gesellschaft, eine präzise Gesellschaftsanalyse und eine Positionierung der theologischen Ethik für die Benachteiligten in den politischen Gemeinwesen unserer Gegenwart und in der globalisierten Welt.

10.11.2022/Christian Spieß/HE