Maximilian-Aichern-Vorlesung 2020 mit Prof. Friedhelm Hengsbach SJ.

Muss oder kann der Kapitalismus noch akzeptiert werden? Als Auftakt der diesjährigen Maximilian-Aichern-Vorlesung an der Katholischen Privat-Universität Linz stellte der Ökonom und Sozialethiker Pater Friedhelm Hengsbach SJ in seinem Vortrag "Der Kapitalismus hat gesiegt, aber Recht hat er nicht" am 19. Oktober 2020 die Gerechtigkeitsfrage für die Welt von heute.

Mit der "christlichen Gesellschaftsethik" positionierte Friedhelm Hengsbach SJ seine sozial- und wirtschaftsethischen Überlegungen einst ausdrücklich "jenseits der katholischen Soziallehre". Befreit aus dem "Schneckenhaus des Naturrechts" entwickelte Hengsbach zusammen mit seinen Kollegen Matthias Möhring-Hesse und Bernhard Emunds eine "normative Handlungstheorie", die sich besonders auf die Motive der sozialen Bewegungen – damals vor allem der Frauen-, Friedens- und Umweltbewegung – stützte, von denen zuvor marginalisierte Interessen vernehmbar artikuliert wurden. Ähnlich könnte man die soeben verkündete Sozialenzyklika "Tutti fratelli" von Papst Franziskus interpretieren.

Mit einem Blick auf dieses neue Dokument eröffnete Friedhelm Hengsbach die heurige Maximilian-Aichern-Vorlesung in Anwesenheit des langjährigen österreichischen Sozialbischofs und Linzer Diözesanbischofs Maximilian Aichern OSB. Mit dem Papst kritisierte Hengsbach den Irrglauben, dem Markt die Lösung sozialer Probleme zuzutrauen. In einer tour d’horizon durch die Geschichte des Kapitalismus zeigte er unterschiedliche Versuche der vergangenen 150 Jahren, den Kapitalismus zu zähmen, zu bändigen, umzubiegen oder zu entmachten. Daneben stellte er ein Modell, in dem der Kapitalismus insofern "gebrochen" wird, als alle Träger des Arbeits-, Geld-, Natur- und Gesellschaftsvermögens – mit anderen Worten: alle Akteure, die zur Wertschöpfung beitragen bzw. davon betroffen sind – gemeinsam darüber entscheiden, was in welchem Ausmaß und für wen produziert wird.

Neben diese ökonomischen Überlegungen stellte Hengsbach eine gerechtigkeitstheoretische Skizze: Darin steht eine Vorstellung, nach der es um die gerechte Verteilung von Gütern unter den Menschen geht, gegenüber einer Vorstellung, in der es um gerechte Verhältnisse zwischen autonomen Subjekten, Personen, geht. Nach der ersten Vorstellung ist die Gesellschaft ein Warenhaus, in dem die Waren möglichst gerecht verteilt werden. In der zweiten im Anschluss an Immanuel Kant entwickelten Vorstellung geht es um die Anerkennung autonomer Subjekte und letztendlich um gerechte Verfahren zur Rechtfertigung gesellschaftlicher Machtverhältnisse.

Friedhelm Hengsbach gilt als einer der bedeutendsten christlichen Sozialethiker und Ökonomen der Gegenwart. Er lehrte viele Jahre an der Philosophisch-Theologischen Hochschule der Jesuiten Sankt Georgen in Frankfurt am Main, leitete dort das Oswald von Nell-Breuning-Institut und lebt heute in Ludwigshafen. Fortgesetzt wird die Maximilian-Aichern-Vorlesung mit einer dreitägigen Lehrveranstaltung unter dem Titel "Den Kapitalismus weder zähmen noch umbiegen noch bändigen, sondern brechen – durch wen und wie?", in der Hengsbach seine Thesen mit den Studierenden der Katholischen Privat-Universität Linz diskutiert.

Die Maximilian-Aichern-Vorlesung wird jährlich von der AG "Wirtschaft - Ethik - Gesellschaft" der Katholischen Privat-Universität Linz durchgeführt und ist dem Grundanliegen verpflichtet, für das Bischof Maximilian Aichern stets glaubwürdig und engagiert eingetreten ist: die Auseinandersetzung mit den Herausforderungen einer christlich-sozialen, solidarischen und gerechten Gestaltung der Gesellschaft.

20.10.2020/CS/he