Krieg in der Ukraine: Geostrategische Perspektive. Machtpolitik. Friedensethik.

Die geostrategische Perspektive auf den Ukraine-Krieg stand im Mittelpunkt der Veranstaltung der Katholischen Privat-Universität Linz am 19. Mai 2022. Unter dem Titel „Krieg in der Ukraine: Erneuerung der Machtpolitik?“ referierten und diskutieren Generalmajor Bruno Hofbauer vom Bundesministerium für Landesverteidigung sowie Ass.-Prof. Max Gottschlich (Praktische Philosophie/Ethik) und Univ.-Prof. Christian Spieß (Christliche Sozialwissenschaften) von der KU Linz.

Es sei keine Veranstaltung der "Betroffenheit" oder der "Solidarität" und auch nicht des Gebets, betonte Rektor Christoph Niemand eingangs. Geopolitische Konflikte lassen sich selten durch einfache Deutungsschablonen begreifen. Sie sind, wie der Krieg in der Ukraine, mehrdimensional. Ziel des Abends sei es, zu analysieren und Einblicke zu gewinnen, die zur "Einordnung unseres Denkens" beitragen und der Meinungsfindung dienen.

Generalmajor Bruno Hofbauer, der als Leiter der Grundsatzabteilung am Bundesministerium für Landesverteidigung mit der gesamten Konzeption und Ausrichtung des Bundesheeres betraut und aus den Medien als gefragter Analyst bekannt ist, beleuchtete in seinem Vortrag, nach einem einleitenden Blick auf militärtechnisch relevante geographische Gegebenheiten der Ukraine, Prägnanzpunkte des bisherigen Kriegsverlaufs. In der Vorgeschichte seit der Annexion der Krim könne man die Schritte einer von langer Hand geplanten Invasion erkennen. Im Ausgang davon betonte Hofbauer, dass auf absehbare Zeit mit einem neuen Kalten Krieg zu rechnen sei. So verwies er etwa darauf, dass die Ostsee mit dem NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens de facto zu einer maritimen NATO-Einflusssphäre werde, was Implikationen für die russische Enklave Kaliningrad habe und andere machtpolitische Druckpunkte und Problemzonen innerhalb Europas hervorbringen werde. Zudem rücke die NATO aus russischer Sicht bedrohlich nahe an die atomar bewaffnete russische Nordflotte. Generalmajor Hofbauer eröffnete abschließend einen Ausblick auf die Folgen für das Verhältnis zwischen den USA, China und Russland und auf die Rolle, die Europa spielen kann. 

Max Gottschlich, Assistenzprofessor am Institut für Praktische Philosophie/Ethik der KU Linz und Mitglied des strategie- und sicherheitspolitischen Beirats der Wissenschaftskommission des BMLV,  ging in einem philosophisch-systematischen Vortrag der Frage nach der Legitimität und den Grenzen zwischenstaatlicher Machtpolitik nach. Zunächst unterschied er zwei Legitimierungsmodelle staatlicher Macht: ein bloß instrumentelles und ein solches, in dem sich die staatliche Machtpolitik aus dem Willen zur Selbsterhaltung einer Freiheitswelt speist. Im Anschluss daran skizzierte Gottschlich drei Formen zwischen- bzw. überstaatlicher Gemeinschaftsbildung, in denen durch eine konkreter werdende wechselseitige Anerkennung die unmittelbare Machtpolitik im Sinne des Faustrechts gehemmt werde: vom bloß durch Wirtschaftsinteressen zusammengehaltenen Staatenbund über eine auf der Anerkennung des Rechts basierenden Koexistenz-Ordnung bis hin zu einer Solidargemeinschaft, die erst unter solchen Staaten möglich sei, deren politische Ordnung auf dem modernen Freiheitsbewusstsein (dass der Mensch als Mensch frei ist, was sich v.a. in den "westlichen" Staaten realisiere) beruhe. Eine Hauptthese war, dass der Abbau militärischer Machtpolitik letztlich nur unter solchen Staaten dauerhaft realisierbar sei. Der Ukraine-Krieg belege die Fragilität der Koexistenz-Ordnung zwischen vormodernen und modernen Freiheitswelten, die auf entgegengesetzten Freiheitskonzeptionen beruhen. Damit wurde die der geostrategischen Perspektive vorausliegende zivilisatorisch-kulturelle Dimension des Krieges berührt. 

Christian Spieß, Universitätsprofessor für Christliche Sozialwissenschaften an der KU Linz, führte in den friedensethischen Diskurs der christlichen Tradition ein. Die Konzeption eines "gerechten Friedens" betone die Bedeutung von politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen, die von vornherein die Gefahr militärischer Auseinandersetzungen reduzierten. Dazu gehört etwa die Durchsetzung von Menschenrechten und Demokratie in den Nationalstaaten. Auch der Ausbau wirtschaftlicher Kooperation ("Wandel durch Handel") sei Bestandteil dieser Konzeption – was Sanktionen aber ausdrücklich einschließen könne. Daneben sei der Ausbau supranationaler Organisationen auf verschiedenen Ebenen (von den Vereinten Nationen über die Weltbank bis zum regionalen Zusammenschluss von Nationalstaaten wie etwa in der EU) wichtig. Allerdings wisse die christliche Friedenethik auch um die Realität militärischer Aggressionen und schließe deshalb die Kriteriologie einer legitimen militärischen Gewaltanwendung ein. Die Theorie des "gerechten Krieges" der theologischen und philosophischen Tradition sei im Grunde auch kriegsskeptisch und deshalb nicht einfach obsolet, müsse aber in die Konzeption eines "Friedens in Gerechtigkeit" integriert werden. Im Hinblick auf die künftige Gestaltung einer transnationalen Ordnung plädierte Spieß für die Weiterentwicklung der den Menschenrechten verpflichteten internationalen Organisationen und der Kooperation demokratischer Nationalstaaten, was auch in einer sich zunehmend "multipolar" darstellenden Welt zeitgemäß und aus Sicht einer christlichen Friedenethik geboten sei.

Moderiert wurde die angeregte Diskussion von Michael Hofer, Universitätsprofessor für Theoretische Philosophie an der KU Linz, der den Abend mit einem Zitat beendete: "Alexander Kluge sagte einmal, dass man ‚vom Krieg nur lernen könne, Frieden zu machen‘ – hoffen wir, dass er damit recht behält."

23.5.2022/MG/CS/HE