Isabella Guanzini: Vielbeachteter Vortrag im Habilitationsverfahren.

Das Christentum als eine Ressource des Geistes denken – in Zeiten seiner Entleerung und Technologisierung. So lautet das Plädoyer von Universitätsprofessorin Isabella Guanzini im Rahmen eines kürzlich gehaltenen Vortrages an der Goethe-Universität Frankfurt am Main anlässlich des Abschlusses ihres dort durchgeführten Habilitationsverfahrens. Die an der KU Linz lehrende Fundamentaltheologin widmete sich in ihrem Referat dem Problem der Übersetzung von Traditionen, konkret dem Geist des christlichen Glaubens.

In Europas Geisteslandschaft werden die religiösen Kräfte zwischen fundamentalistischen, konservativen und populistischen Strömungen einerseits und zwischen säkularistischen Offensiven andererseits zerrieben. Mit Habermas fragt die Theologin und Philosophin, wie heute das Christentum noch eine Gestalt des objektiven Geistes sein kann. Die Antwort auf diese epochale Frage findet Isabella Guanzini im Konzept einer "Übersetzung als Praktik des Geistes". Dazu müsse sich das Christentum als eine Ressource verstehen, die für alle offen ist, um eine "gerechte Praxis (zu) motivieren und zum Aufbau des Gemeinsamen bei(zu)tragen". Es muss sich einlassen auf einen Prozess der Übersetzung und "Ver-setzung", was bedeutet, aus dem Eigenen herauszutreten und ins Fremde einzutauchen. Es ist nämlich die Vertrautheit mit dem Eigenen, die paradoxerweise verantwortlich dafür ist, das Eigene nicht wirklich zu kennen. "Deshalb ist es notwendig, durch das Fremde hindurchzugehen und sich durch das Fremde hindurchführen zu lassen, weil man sonst nie weiß, was das Eigene wirklich ist."

Die biblische Tradition kennt diese unverzichtbare Aufgabe aus eigener Erfahrung: Diaspora und Exodus sind die Namen für eine Existenz im Fremden. Was in jeder Text-Übersetzung der entscheidende Anspruch ist, das ist heute die Aufgabe des Christentums insgesamt: "Die Übersetzbarkeit eines Textes verpflichtet eine Tradition zur Sprache des Anderen und zwingt die Tradition selbst, wenn sie sich treu bleiben möchte, sich ‚nie ohne den Anderen‘ neu zu verstehen und die eigene Welt ‚nie gegen den Anderen‘ zu bewohnen." Nur mit dem Anderen kann entdeckt werden, was das Potenzial der eigenen Ressource ist. Die religiösen Traditionen haben eine über Jahrhunderte reichende Erfahrung mit Übersetzungsprozessen. Diese Übersetzungskompetenz könnte auch heute helfen, sich in die Gestalten des Geistes im heutigen postsäkularen Europa neu zu finden. Darin liegt die Aufgabe der Theologie, und überhaupt die Aufgabe aller Geisteskräfte unserer Kultur.

An der pandemiebedingt per Videokonferenz stattfindenden Vorlesung nahm neben den Vertreter*innen der Fakultät für Katholische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt ein zahlreiches und internationales Publikum teil, darunter auch Freund*innen, Wegbegleiter*innen und Kolleg*innen der bisherigen Stationen der wissenschaftlichen Laufbahn von Isabella Guanzini in Mailand, Wien, Graz und Linz.

Dr.in phil. Dr.in theol. Isabella Guanzini ist Universitätsprofessorin der Fundamentaltheologie an der Katholischen Privat-Universität Linz. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören neben der Rolle der Theologie in Kontexten der Gegenwart und der säkularen Übersetzungen christlicher Kategorien insbesondere Fragestellungen der Religionsphilosophie sowie des Verhältnisses von Christentum und Ästhetik bzw. von Christentum und Psychoanalyse.

 

 

 

10.12.2021/Franz Gruber/Christoph Niemand/RK