Gastbeitrag von Lukas Kaelin in den OÖN: Zur Ethik der Impfpflicht.

In den "Oberösterreichischen Nachrichten" vom 26. November 2021 beleuchtet Lukas Kaelin, Assistenz-Professor am Institut für Praktische Philosophie/Ethik der Katholischen Privat-Universität Linz, die ethische und politische Problematik einer allgemeinen Impfpflicht. In derselben Ausgabe findet sich ein Interview mit Michael Rosenberger, Professor für Moraltheologie an der KU Linz, zur Spaltung der Gesellschaft und deren Hintergründe – und zur möglichen Rolle der Kirche in der aktuellen Corona-Krise.

Das Interview mit Michael Rosenberger finden Sie am Ende der Seite. Lesen Sie hier die Langversion des Beitrags von Lukas Kaelin, der leicht gekürzt in der Rubrik "Sicht der Anderen" erschienen ist:

Zur Ethik der Impfpflicht

von Lukas Kaelin

Manchmal kann es schnell gehen. Noch vor kurzem standen alle politischen Parteien einer allgemeinen Impfpflicht skeptisch gegenüber, mittlerweile ist sie von der Bundesregierung beschlossene Sache. Angesichts der rasch steigenden Infektionszahlen, der drohenden Überlastung der Intensivstationen und des allgemeinen Lockdowns soll sie, so die offizielle Begründung, eine Perspektive bieten, die verhindert, dass auf den vierten auch der fünfte und sechste Lockdown folgen werden. So verständlich das Anliegen ist, endlich mit dem Impfen den Weg aus der Pandemie zu finden, so stellen sich doch ethische Fragen bezüglich der Einführung einer allgemeinen Impfpflicht.

Politisch markiert die Impflicht eine Geste der Stärke des Staates, der seine renitenten Bürgerinnen und Bürger unter Strafandrohung zum Wohl der Gesellschaft zum Impfen zwingt. Mit der Androhung des Zwangs hat der Staat ein Mittel, das in die Selbstbestimmung und körperliche Integrität der Bürgerinnen und Bürger eingreift. Zugleich kommt dieses letzte Mittel einer liberalen Demokratie, das Recht zu zwingen, in einem Moment eklatanten politischen Versagens der Regierung und kaschiert kaum die Verfehlungen im Pandemiemanagement in den letzten Monaten: Die Impfkampagne ist über den Sommer ins Stocken geraten und nicht mit genug Nachdruck verfolgt worden. Außerdem wurde es verabsäumt, trotz hinreichender Warnung von Expertinnen und Experten, frühzeitig striktere Maßnahmen zu setzen. Dass dies aufgrund von kurzsichtigem politischen Kalkül – Stichwort: Oberösterreich-Wahlen – passierte, macht die Sache nur noch schlimmer.

Außer Streit steht, dass die Impfung wirkt – sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft. Der Vergleich der europäischen Länder zeigt, dass eine hohe Impfquote mit einer niederen Inzidenz einhergeht und somit andere Länder mit viel weniger Einschränkungen auskommen. Eine Impfpflicht verspricht daher, das Ziel eines guten Schutzes der Bevölkerung zu erreichen. Dieses Ziel erscheint umso erstrebenswerter, als die Pandemie mit den politisch notwendigen Maßnahmen enorme Einschränkungen des Alltags für alle gebracht hat. Jedoch ist zu fragen, ob das angestrebte Ziel nicht mit weniger Zwang erreicht werden kann und ob eine allgemeine Impfpflicht politisch klug ist.

Ethisch kann eine Impfpflicht nur zum Wohl der Gesellschaft und nicht der Gesundheit Einzelner gerechtfertigt werden. Zwang darf allerdings nur als letztes Mittel eingesetzt werden. Hier bestehen noch Möglichkeiten von Seiten von Sozialpartnern und Religionsgemeinschaften, Vereinen und Bildungseinrichtungen sowohl Anreize zu setzen als auch zu sanktionieren. Außerdem kann eine Impfkampagne stärker mit Rollenmodellen arbeiten und niederschwelligen Zugang zum Impfangebot bieten. Wo sind David Alaba und Anna Veith, Andreas Gabalier und Christina Stürmer, die für das Impfen werben? Wenn nun eine Impfpflicht im Raum steht, so zeigt das schließlich auch das politische Versäumnis, in nun fast zwei Jahren Pandemie Intensivkapazitäten auszubauen und die allgemeine Lage der Pflege zu verbessern.

Nun kann natürlich argumentiert werden, dass mit Überzeugungsarbeit und Freiwilligkeit, Information und Aufklärung, Impfskeptikerinnen und Impfskeptiker, die glauben, dass sie bei einer Demonstration mit Sprühimpfungen beglückt werden, nicht viel zu machen ist. In der Tat kommt in manchen Ängsten in Bezug auf die Impfung eine archaische Irrationalität zur Geltung, gegen die mit Argumenten nicht anzukommen ist. Jedoch kann gerade angesichts dieser archaischen Ängste der Zwang diese nochmals verstärken und zu gesellschaftlicher Desintegration führen. Das wären politische Nebenwirkungen. Nun darf die geimpfte Mehrheitsgesellschaft auch nicht in Geiselhaft einer irrationalen Minderheit genommen werden. Und extremistische Gruppen sind nicht in die Gesellschaft integrierbar. Doch geht die Gruppe der Impfskeptikerinnen und Impfskeptiker quer durch die Gesellschaft, und da sollten zuerst die anderen Mittel ausgeschöpft werden. Kurzum: Moralisch besteht in der Tat eine Impfpflicht, denn damit schützt man sich und andere. Diese jedoch rechtlich durchsetzen zu wollen ist nicht nur ethisch problematisch, sondern möglicherweise auch politisch nicht klug.

Dr. Lukas Kaelin ist Assistenz-Professor am Institut für Praktische Philosophie/Ethik der KU Linz. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Fragen der Sozialphilosophie und der Politischen Philosophie sowie Probleme der Bioethik, Medizinethik und Philosophie der Medizin. In seinem laufenden Habilitationsprojekt widmet er sich dem Begriff der Öffentlichkeit angesichts des medialen, sozialen, ökonomischen und politischen Wandels. Alltägliche moralische und ethische Fragen diskutiert er im Life Radio-Podcast Die Frage der Moral.

 

 

Interview mit Professor Dr. Michael Rosenberger in den Oberösterreichischen Nachrichten vom 26.11.2021:
"Die Kirche sollte sich einmischen" [PDF]

26.11.2021/HE/RK