Dies Academicus: Moralischer Fortschritt und die Rolle des Christentums.

Religion hat freiheitsstiftendes Potenzial und lehrt Respekt vor der Vielfalt menschlicher Lebensformen, kann aber auch autoritär und ausschließend auftreten. Unter dem Titel "Moralischer Fortschritt? Die Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte und die ambivalente Rolle des Christentums" setzte sich der "Dies Academicus" am 16. November 2022 mit diesen gegenläufigen Tendenzen auseinander. An Vorträge des Soziologen Hans Joas und der Evangelischen Theologin Cornelia Richter schloss sich eine von Professor Franz Gruber (KU Linz) moderierte lebhafte Podiumsdiskussion, die mit Statements von Assistenz-Professorin Katja Winker (KU Linz), City-Pastoral-Referent Markus Pühringer (Diözese Linz) und der Frauenbeauftragten Petra Gstöttner-Hofer (Diözese Linz) eröffnet wurde.

Studierende und Fachkolleg:innen, Vertreter:innen aus Kirche und Politik sowie ein interessiertes Publikum konnte Rektor Christoph Niemand beim Dies Academicus 2022 in der Aula der KU Linz begrüßen. Die Frage nach der Rolle namentlich des Christentums bei Entwicklung und Durchsetzung von Menschen- und Bürgerrechten war als Thema bereits für den Dies Academicus 2021 geplant; dieser musste coronabedingt jedoch ausfallen. Die ungebrochene Aktualität der Fragestellung, nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund intensiver Diskussionen innerhalb der Katholischen Kirche, betonte Assistenz-Professor Christian Rößner (Institut für Theoretische Philosophie) in seiner Einführung. Dementsprechend wurde die kritische Auseinandersetzung mit der innerkirchlichen Praxis in der Diskussion im Anschluss an die Hauptvorträge noch einmal besonders deutlich.

Konkrete Bedingungen für den Erfolg einer Bewegung

Professor Hans Joas, Soziologe an der Humboldt-Universität zu Berlin und an der Universität Chicago, gab mit seinem Vortrag einen mikroskopischen Einblick in ein Kapitel seines laufenden Buchprojekts zur Entstehung einer globalen ethisch-moralischen Universalismus. Am Beispiel der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung in den 1950er und 1960er Jahre arbeitete er die konkreten historischen Bedingungen heraus, die erklärbar machen können, wieso diese Bewegung letztlich erfolgreich war. Das Christentum habe zwischen Rassismus und dem Kampf für seine Überwindung, so der Untertitel des Vortags, eine bemerkenswerte Doppelrolle gespielt: Denn einerseits konnten sich sowohl Vertreter:innen rassistischer Argumentationen wie engagierte Gegner:innen von Rassismus und Segregation auf christliche Texte und Traditionen berufen – ein Beispiel für die 'innere' Ambivalenz des Christentums. Andererseits aber, und hier setzte Joas seine detaillierte soziologische Analyse an, war es gerade eine spezifische religiöse Kultur, die der Bürgerrechtsbewegung ihre Durchschlagskraft verlieh. Zu nennen seien dabei insbesondere die gesellschaftliche Rolle der (baptistischen) Prediger, die eingenommenen theologischen Positionen, die soziokulturelle, auch organisatorisch-infrastrukturelle Überlagerung von religiöser Praxis und politischer Aktivität sowie eine fehlende christlich motivierte und von den Leitungsebenen der Kirchen getragene Gegenbewegung zu dem Engagement, das heute oft nur mehr mit einzelnen Protagonist:innen wie Martin Luther King verbunden wird.

Entwicklungslinien und Traditionen

Der Idee der Menschenrechte zwischen theologischen Impulsen und kirchlicher Programmatik ging Professorin Cornelia Richter, Inhaberin des Lehrstuhls für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn, in ihrem Vortrag nach. Auch sie berichtete damit direkt aus der wissenschaftlichen Werkstatt, denn sie stellte Elemente eines interdisziplinären Forschungsprojekts vor, das zum Ziel hat, Bezüge und Zusammenhänge zwischen Positionen evangelischer Theologie und Texten wie Selbstverständnis der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung des 18. Jahrhunderts herauszuarbeiten. Anders gesagt: Wie kommt die Theologie, wie kommen bestimmte konkrete Formulierungen (und die dahinterliegenden Vorstellungen) in die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und in die amerikanische Verfassung? Ausgehend von bisherigen Antworten auf diesen Befund – umrissen wurden die Lesarten der Positionen von Ernst Troeltsch, Max Weber, Georg Jellinek und Quentin Skinner – griff Richter in die evangelische theologische und in die philosophische Tradition aus und rückte dabei Philipp Melanchthon ins Zentrum. Für die Stellung des Protestantismus zwischen Gehorsamspflicht und Widerständigkeit sei Melanchthons "Entdeckung" des Naturrechts entscheidend, denn dieses erlaube, Menschen auch jenseits des eigenen Glaubens, der eigenen Kultur oder der eigenen Gruppe als Träger von, mit einem modernen Begriff gesprochen, unveräußerlichen Menschenrechten zu begreifen. In einem historischen Bogen zur Gegenwart erinnerte Richter aber nachdrücklich daran, dass positive Impulse allein noch keine gelebte Praxis begründen, dass die besten "Programme" in ihrer Zeit gebunden und vor allem auch in der Umsetzung von dieser bedingt sind – und dass sich die Kirchen bei ihrem Engagement immer auch die Frage stellen müssen, wo die Grenze zwischen christlichem Motiv und (partei-)politischer Positionierung verlaufe.

Engagement und Glaubwürdigkeit

Eröffnet von Statements der Assistenz-Professorin Katja Winkler (Institut für Christliche Sozialwissenschaften Johannes Schasching SJ) zu Lernprozessen in Katholizismus und kirchlichem Lehramt mit Blick u.a. auf Enzykliken des 19. Jahrhunderts und das Zweite Vatikanum, von City-Patoral-Referent Markus Pühringer (Diözese Linz) – er zeichnete anhand seiner Biographie Motive zum gesellschaftlichen und politischen Engagement heraus, die sich auch aus seiner christlichen Prägung speisen – und von Frauenbeauftragter Petra Gstöttner-Hofer (Diözese Linz), die in aller Deutlichkeit die Ambivalenz der Katholischen Kirche in der Frauenfrage benannte, entwickelte sich eine lebhafte und angeregte Diskussion.

Unter Moderation von Professor Franz Gruber (KU LinzI wurden dabei vor allem zwei Felder vertieft: Zum einen die theoretische Frage, wodurch historisch wirkmächtige Bewegungen bzw. radikale Mentalitätsveränderungen überhaupt ausgelöst werden: Durch Elemente in der Tradition, die plötzlich virulent und wirksam werden? Oder durch individuelle Verarbeitung von Erfahrungen, die etwas momentartig evident machen, das dann in einem zweiten Schritt erst aus der Tradition begründet und abgesichert wird? Der darüber zwischen Hans Joas und Cornelia Richter geführte Dialog hielt erhellende Einsichten bereit, zeugte er doch vom steten Ringen um Methoden und Modelle mit Erklärungskraft.

Breiten Raum nahm in der Diskussion aber vor allem die von Katja Winkler herausgestellte Spannung ein zwischen nach außen gerichtetem Engagement der Katholischen Kirche betreffs Menschenrechte, Teilhabe und Gendergerechtigkeit und im Inneren der eigenen Institution umgesetzter Praxis. Einigkeit herrschte darüber, dass sich hierin für die Katholische Kirche ein gewaltiges Glaubwürdigkeitsproblem auftue, das alle positiv zu bewertenden gesellschaftlichen Aktivitäten wie auch die verstärkten Ansätze und Initiativen zu inneren strukturellen Reformen überschatte. Hinsichtlich der Frauenfrage sei in der Katholischen Kirche, so der gemeinsame Befund, heute ein Punkt erreicht, hinter den es kein zurück mehr gebe, und die Form und Reichweite ihrer Lösung werde ein entscheidender Faktor für die weitere Entwicklung der Kirche sein.

In einer abschließenden Reflexion näherte man sich noch einmal dem Titel des heurigen Dies Academicus: Moralischer Fortschritt? Wie sei das zu verstehen? Und habe man dafür eigentlich einen gültigen Maßstab? Dass es sich hier immer um Aushandlungs- und Diskussionsprozesse handle, die einfache Antworten verunmöglichen, betonte Cornelia Richter. Hans Joas unterstrich, dass es sich bei moralischem Fortschritt niemals um einen Automatismus handle – in dem Sinne, dass die Welt „von allein gut wird“ –, man aber sehr wohl einen Maßstab für moralischen Fortschritt angeben könne: Ein balancierter, konkreter Universalismus, der sich auch partikularen Verpflichtungen bewusst sei, müsse immer als Fortschritt gegenüber einem moralischen Partikularismus betrachtet werden.

17.11.2022/RK/HE