Aktuelle Theologisch-praktische Quartalschrift: Leben mit der Krise.

In der neuen Ausgabe der Theologisch-praktischen Quartalschrift skizzieren die Autor*innen unter dem Titel "Leben mit der Krise" Analysen und Interpretationen von Corona und leisten damit einen ersten, wenn auch sehr vorläufigen Beitrag zur Reflexion über die Pandemie.

Liebe Leserin, lieber Leser!

"Not lehrt beten!" Das Sprichwort spielt auf die Tendenz an, dass Menschen und Kollektive in besonderen existenziellen Herausforderungen verstärkt dazu neigen, Religion und Religiosität, Glauben und Spiritualität wiederzuentdecken. Für die Religionssoziologie sind solche Formen der Kontingenzbewältigung selbstverständliche Funktionen der Religion. Die Corona-Pandemie mit all ihren Folgen ist gewiss eine solche existenzielle Herausforderung. Wäre es also erwartbar gewesen, dass sich während der Corona-Pandemie die Menschen auch in den säkularisierten oder postsäkularen Gesellschaften Mitteleuropas wieder dem Glauben und der religiösen Praxis zuwenden? Zumindest auf den ersten Blick scheint das nicht geschehen zu sein. Bedingt durch die Maßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens wurde ein Teil der kirchlichen Angebote, insbesondere Gottesdienste und Seelsorge, weitgehend eingestellt. Ein anderer Teil, viele diakonische Angebote und soziale Dienste der Caritas, wurde dagegen weitergeführt und auch stark in Anspruch genommen. Und nicht wenige Seelsorgerinnen und Seelsorger betonen, dass sie während der Pandemie stärker denn je angefragt gewesen seien. Dennoch wurde bald die Klage laut, dass die Kirche in der Krise aus der Öffentlichkeit verschwunden sei, dass keine theologischen Deutungen der Krise und ihrer Bewältigung angeboten würden. Kritisiert wurde beispielsweise die monatelange Einstellung der Kinder- und Jugendarbeit sowie nicht zuletzt der Rückzug aus der Seelsorge mit Kranken und Sterbenden. Bis heute ist umstritten, ob der von manchen wahrgenommene und jedenfalls beklagte Rückzug der Kirche eine zutreffende Analyse der Situation darstellt. Jene, die diese Wahrnehmung nicht teilen, verweisen auf ein rasch entstehendes reichhaltiges Angebot im Bereich der traditionellen und neuen sozialen Medien, auf Fernseh- und Online-Gottesdienste, auf eine Art hybride Verknüpfung der "Hauskirchen" mit virtuellen kirchlichen Feierangeboten sowie auf die kontinuierlich weitergeführte individuelle Seelsorge und auf die stets für das persönliche Gebet geöffneten Kirchen. Wenn etwas dran ist an dem geläufigen Wort, dass Corona "wie ein Brennglas" wirke, dann müsste dies auch für die ambivalenten Phänomene der Säkularisierung gelten. Was aber zeigt sich im viel zitierten Brennglas? Erleben wir einen coronainduzierten Säkularisierungsschub? Oder ist es den Religionsgemeinschaften umgekehrt sogar gelungen, durch neue mediale Angebote ganz neue Personenkreise anzusprechen? Haben gläubige Menschen unter dem Fehlen von Liturgie und Seelsorge gelitten? Oder haben bislang praktizierende Christinnen und Christen festgestellt, dass ihnen ohne ihre regelmäßige gemeinsame religiöse Praxis gar nichts fehlt? Und wie verändert die außergewöhnliche Situation der Pandemie die Routinen der kirchlichen und individuellen religiösen Praxis? Wird bald wieder alles beim Alten sein oder wird es eine digitale Transformation von Liturgie und Seelsorge geben? Etabliert sich eine Hauskirchenkultur als Merkmal einer fortschreitenden Privatisierung der Religion? Wird dabei die Stimme von Theologie und Kirche noch gebraucht? Werden überhaupt theologische Deutungsangebote für die überstandene Pandemie formuliert und gegebenenfalls gehört werden?

Die bereits vorliegenden empirischen Daten geben noch keine eindeutigen Antworten auf all diese Fragen. Deshalb sind wir den Autoren und der Autorin dieses Heftes ganz besonders dankbar, dass sie sich auf das Wagnis eingelassen haben, erste Analysen und Interpretationen der "Corona-Krise" zu skizzieren. Gleich zu Beginn betont Klaus Kießling (Frankfurt am Main) in einem pastoralpsychologischen Zugang, dass wir während der Pandemie gerade nicht alle im selben Boot sitzen, sondern sich gewaltige Unterschiede zwischen Luxusyacht und Schlauchboot zeigen, die wir mit einer "weltbewegenden Solidarität" überwinden müssten. Gerhard Kruip (Mainz) geht aus der Perspektive der Sozialethik den vorhandenen oder vermissten Solidaritäten nach. Seine Analyse mündet in einen Appell an die diskursive Vernunft und an eine "intellektuelle Kooperation" zur Überwindung der (Folgen der) Krise. Die Beschreibung der Pandemie als "Krise" stellt dagegen Steffen Patzold (Tübingen) aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive in Frage – mit Hilfe seines Analysemodells "bedrohter Ordnungen". Auf die Gedankenwelt von Viktor E. Frankl und den Krisenbegriff der Existenzanalyse greift János Vik (Cluj/Rumänien) in seiner Rekonstruktion der Bejahungswürdigkeit des Lebens zurück – in der Absicht, die Komfortzone der Glaubenswahrheiten zu verlassen, sich zum leidenden Menschen hinzubewegen und ihn in seiner Sinnfindung zu begleiten. Als Fortschritt in der christlichen Verkündigung beschreibt Franz Gruber (Linz), dass die Theologisierung der Krise – etwa mit Modellen der Strafe, der Vergeltung oder der Apokalypse – weitgehend vermieden worden sei. Gruber selbst stellt die Begriffe des Leides und des Mit-Leidens ins Zentrum seiner Überlegungen. Die Zeit der Pandemie mache in besonderer Weise sichtbar, was immer der Fall sei: dass wir vor das Leid gestellt sind und es bleiben. Mit der Rolle der Liturgie befasst sich Benedikt Kranemann (Erfurt). Dem Eindruck einer "Schockstarre" während der Pandemie widerspricht er und skizziert einige Szenarien für die Zukunft der Liturgie "nach Corona". Den Abschluss des thematischen Teils des Heftes bildet die Darstellung eines Beispiels für die Krisenerfahrung und -bewältigung im Alten Testament von Uta Schmidt (Heidelberg): Jesaia 24 und das "Ende aller Freude".

Beiträge von Isabella Guanzini (Linz) über das Verhältnis von Theologie und Ästhetik sowie von Thomas Franz (Würzburg) über das unausgeschöpfte Potenzial lehramtlicher Theologie (mit Blick auf die Offenbarungskonstitution Dei Verbum) und die Rezensionen schließen das Heft ab.

Liebe Leserinnen und Leser,

wir befinden uns in einer Situation, deren Folgen für Theologie und Kirche, für unsere Gesellschaften und unser humanes Selbstverständnis noch nicht absehbar sind. Mit diesem Heft möchten wir einen ersten, wenn auch sehr vorläufigen Beitrag zur Reflexion über die Corona-Pandemie leisten. Die künftige Gestaltung der Liturgie und neue Herausforderungen in der Religionspädagogik, die sozioökonomischen Verwerfungen und pastorale Veränderungen, nicht zuletzt das unmittelbare Leid durch Krankheit und Tod infolge von CoViD-19 werden uns weiter beschäftigen. Wir hoffen, Ihnen mit diesem Heft einige Anregungen und Impulse für diese Zeit mit auf den Weg geben zu können.

Ihr

Christian Spieß
(für die Redaktion)

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17.8.2021/kd