„Wiener Mode“ – erfundene Tradition als politischer Akteur

Welche Rollen der Konstruktion und Etablierung einer „Wiener Mode“ in der Habsburgermonarchie des 19. Jahrhunderts zukamen, schilderte Lisbeth Freiß am letzten Abend der Vortragsreihe STOFFWECHSEL am 17. Juni 2015.

Was ist Kleidung, was ist Mode? – Nichts weiter als Abbild und Symbol gesellschaftlicher und politischer Handlungsverläufe? Oder vielmehr Akteur in diesen Feldern? Dass und wie Mode diese und andere Handlungsverläufe nicht bloß widerspiegelt, sondern mithervorruft und mitgestaltet, zeichnete Lisbeth Freiß am Beispiel der „Wiener Mode“ nach. Das im Laufe des 19. Jahrhunderts ausformulierte Programm einer „Wiener Mode“ wurde dabei insbesondere sichtbar als Teil einer Bewegung, die auf „nationale Homogenisierung“ zielte – und die eine sowohl nach Außen als nach Innen gerichtete Wirkung entfalten sollte.

Im europäischen Modediskurs der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts lässt sich ein Grundmotiv deutlich ausmachen: „Mode“ wird verstanden nicht zuletzt als Ausdruck und Indikator der Kulturhöhe einer Nation bzw. eines Volkes. In Wahrnehmung und Deutung von „Mode“ verwobene Begriffe wie Fortschritt, Bildung, Kultur und Nation ließen Gesellschaften, die augenscheinlich über keine entwickelte Mode verfügten – und auch über kein entsprechendes „Modevokabular“ –, in der zeitgenössischen Publizistik als kulturell rückständig, gewissermaßen defizitär erscheinen.

Von Beginn an sind Programmformulierungen zu einer originalen „Wiener Mode“, so zeigte Freiß anhand einer minutiösen Lektüre damals gegründeter Modejournale, auf diesen Modediskurs nicht etwa nur lose bezogen, sondern antworten diesem explizit und schreiben ihn fort. Mit der Propagierung einer spezifischen „Wiener Mode“, die geradezu zum nationalen Auftrag der „gebildeten, kosmopolitischen Wienerin“ als Repräsentantin der Österreicherin stilisiert wurde, war das Ziel verknüpft, die Habsburgermonarchie im Konzert der europäischen Mächte nicht bloß als eine selbstständige Kulturnation unter anderen, sondern als die tonangebende zu positionieren. Dies lässt sich in den Beiträgen der Journale nachlesen, wo Wien u.a. gegen das Modezentrum Paris in Stellung gebracht wird, und dies zeigt sich mitunter sogar in der Selbstbetitelung der Journale und Zeitschriften.

Unter Bezugnahme auf das Konzept des „Othering“ im Anschluss an Homi K. Bhabha machte Freiß deutlich, dass die Konstruktion der „Wiener Mode“ als Abgrenzungs- und Aneignungsbewegung zu lesen ist, ja, dass in den zeitgenössischen Programmschriften diese Strategie zur Herstellung kultureller Hegemonie sowohl theoretisch begründet als auch in praxi „modisch“ vollzogen wird: durch Aneignung- und Neuinterpretation „fremder“ Moden.

Diese Strategie wird aber nicht nur nach außen wirksam, sondern hat in noch viel höherem Maße eine nach innen gewandte Stoßrichtung – denn das Programm der „Wiener Mode“ reagierte auch auf das „Nationalitätenproblem“ des habsburgischen Vielvölkerstaates. Etabliert werden sollte eine vom gebildeten Wiener Bürgertum (im doppelten Sinne) getragene „Mode“, in der zum einen zwar unterschiedliche nationale Bekleidungspraktiken der Monarchie aufgenommen werden – dies als nach innen gewandtes „Othering“ wieder im Modus der aneignenden Überformung und Umgestaltung –, die zum anderen aber gerade darin als die „Wiener Mode“ den einzigen Konvergenz- und Bezugspunkt des nationalen Modegeschehens bildet. Die Peripherien der Monarchie, aber auch die nähere und fernere „Provinz“ stehen, wenn auch in gestufter Form, unter dem Verdikt der Kulturlosigkeit und Rückständigkeit, und damit sind die dortigen Bekleidungspraktiken allenfalls Motivlieferanten, keinesfalls aber Erscheinungen einer eigenständigen „Mode“. Bedenkt man, dass bspw. das ungarische Kleid, das „magyar ruha“, seit dem Ende des 18. Jahrhunderts auch als politisches Statement der ungarischen Eigenständigkeit, geradezu als antihabsburgisches Statement verstanden und eingesetzt wurde, kann man die gesellschafts- und kulturpolitische Dimension dessen ermessen, was hier im Feld der Mode mitverhandelt wird.

Alleiniger Ausdruck der „nationalen Mode“ sollte die „Wiener Mode“ sein – als erfundene Tradition musste fast notwendigerweise ihre Originalität und Authentizität immer wieder bekräftigt werden, waren dies doch Schlüsselbegriffe bei der Konstruktion von „Mode“ als Ausfluss eines (seinerseits zwar ebenfalls konstruierten, aber z.B. substantialistisch vorgestellten) besonderen „nationalen Charakters“.

Diese eine Mode in der Monarchie durchzusetzen, zu verbreiten, zu propagieren bemühte man sich auf mehreren Ebenen. Verschiedene Modejournale, Vereine zur Förderung der Mode – namentlich der 1859 gegründete Wiener Moden-Verein zur Hebung inländischer Industrie, in dessen Statuten im Übrigen auch eine dezidiert nationalökonomische Motivation niedergelegt ist – und die Einpflanzung dieser vereinheitlichten nationalen Mode in den Schul- und Ausbildungsbetrieb sollten eine flächendeckende Durchbringung der gesamten Gesellschaft – gleichzeitig von oben und unten – gewährleisten. Die Gesellschaft sollte in einer „vestimentären Praxis“ zusammengeschlossen und damit „homogenisiert“ werden. Freiß kennzeichnete dies als binnenkoloniale „hegemoniale Umklammerung“ und erinnerte damit zugleich daran, dass eine Geschichte des nach innen gewandten Kolonialismus der Monarchie noch zu schreiben ist.

Doch blieb diese Homogenisierung nicht auf das stoffliche Erscheinungsbild der Mode beschränkt. Den potenziellen Rezipientinnen wurde diese einheitliche Mode zwar auch bildlich – bspw. mittels kolorierter Kupferstiche – vorgeführt, für die Umsetzung aber waren Schnittmuster beigegeben, die ab den 1850er Jahren auf einem geometrisch konstruierten Normkörper basierten. Man ging damals von anthropomorphen Maßen zum standardisierten Zentimetermaß über, von der Orientierung am Individualkörper zur Orientierung an einem Normkörper. Dieser den Schnittmustern zugrunde gelegte Normkörper konnte mithilfe eines Konstruktionsverfahrens und über das biegsame Maßband dem natürlichen Körper gleichsam übergestülpt werden. Man könne, so Lisbeth Freiß, durchaus davon sprechen, dass mit der einheitlichen „nationalen Mode“ auch ein standardisierter „nationaler Körper“ entworfen wurde.

Mit diesem dichten Vortrag, in dem noch einmal deutlich wurde, dass Mode immer mehr als „bloß Mode“ ist, endete am 17. Juni 2015 die Vortragsreihe STOFFWECHSEL. Mode zwischen Globalisierung und Transkulturalität. Eine Publikation der während des Sommersemesters gehaltenen Vorträge wird überlegt.